Samstag, 24. April 2010

Hong Kong Dialog 5





April 15th, Aberdeen Country Park, Hong Kong

Ruhig gleitet ein Adler durch die Lüfte. Unter seinen Flügeln schimmern die gläsernen Wolkenkratzer Hong Kongs im matten Nachmittagslicht. Immer wieder kriechen Sonnenstrahlen durch die Nebeldecke und tauchen das Meer in Türkis. Ich wandere mit W durch den Aberdeen Country Park auf Hong Kong Island. W ist 44, sagt er, ein Jahr älter als ich, und doch sind wir beide im selben Jahr und im selben Monat geboren. Chinesen zählen das erste Jahr nach der Empfängnis immer schon mit. W hat chinesische Geschichte und Literatur studiert und arbeitet als Kurator in einem großen Hong Konger Museum.

W: Hier drüben müsste er gleich kommen.
B: Wer?
W: Na der alte Bunker.
B: Echt, oh Bunker gibt es in Deutschland auch jede Menge.

Links im Dickicht entdeckt W die Bunkerreste aus dem zweiten Weltkrieg.

W: Die Briten hatten hier in den Bergen Bunker gebaut und Flugabwehrgeschütze aufgestellt.
B: Wann haben die Japaner denn angegriffen?
W: 8. Dezember 1941. Genau einen Tag nach Pearl Harbour. Die Briten hatten hier nur 15.000 Verteidiger aus Australien, Kanada und Indien. Das war ein bunter Saftladen und den militärisch unglaublich gut ausgebildeten 50.000 Japanern in jeder Hinsicht unterlegen. Die Schlacht um Hong Kong hat nur 18 Tage gedauert. Meine Familie hatte Verwandte in Singapur, und damals, so hat mir meine Mutter erzählt, haben meine Hong Konger Vorfahren geglaubt, die Japaner würden nur Singapur angreifen. Hong Kong, so dachten sie, sei viel zu klein und zu unbedeutend im Vergleich zu Singapur.
B: Hatte Churchill damals nicht Singapur zu einer Festung ausbauen lassen?
W: Richtig, nur vor dem Krieg haben fataler weise meine Singapurer Vorfahren geglaubt, dass die Stadt viel zu weit weg ist von Japan und zu uninteressant im Vergleich zu Hong Kong. Und geirrt haben sich beide. Beide Städte wurden von den Japanern in Windeseile erobert und mehr oder weniger sogar gleichzeitig. Die Japaner sind einfach durch Malaysia marschiert und haben klugerweise Singapur nicht von der stark befestigten Seeseite angegriffen.

Ein riesiger Tanker kriecht durch die Hong Kong Bay. Im Überseehafen von Kowloon warten hunderte Schiffe aus aller Welt.

B. Ich habe im Hong Kong Museum of History ziemlich viel erfahren über die Japanische Besetzungszeit. Hong Kong hatte in den 40er Jahren schon mehr als 1,6 Millionen Einwohner und während der fast 4jährigen Besetzung sind diese auf 600.000 geschrumpft. Permanente Nahrungsengpässe haben die Japaner veranlasst, die Bevölkerung nach China abzuschieben. Im Museum hängen viele Schwarz-weiß Fotos, auf den du siehst, wie willkürlich diese dabei vorgegangen sind. Wo wir hier heute auf diesem Weg entlang spazieren, wurden vor mehr als 60 Jahren die Leute von der Straße weggefangen, eingesperrt und ausgesiedelt.
W: Ja, das war die dunkelste Zeit Hong Kongs. Verwandte meiner Familie sind verhungert, andere verschollen. Wir wissen bis heute nichts. Und bis heute hat sich Japan nicht für seine Gräueltaten entschuldigt.
B: Ja, weißt du was? Mir hat neulich ein alter japanischer Psychiater etwas darüber erzählt, der neben mir im Flugzeug nach Bangkok saß. Ein hochgebildeter Herr. Er fühlte sich ermuntert, nachdem ich sagte, ich sei ursprünglich aus Deutschland, über die Vergangenheit der beiden Länder zu reden. Der Psychiater ist der Überzeugung, dass die auffällig hohe Suizidrate der Japaner, und die dort verbreiteten Krankheiten wie Depression und Psychosen darauf zurückgehen, dass die Japaner ihre Vergangenheit nicht bewältigt haben. Er sagte zu mir, Japan hätte eine ähnlich scheußliche, und aggressive Vergangenheit wie Deutschland. Doch während wir in Deutschland – seiner Meinung nach – sehr viel über die Vergangenheit nachdenken und uns mit unseren Nachbarn ausgesöhnt haben, versucht Japan bis heute alles zu verdrängen! Eine interessante These.

Die sich noch oben hin verjüngende Spitze des über 400 Meter hohen Internationalen Finanz Centrums (IFC) wirkt im kalten Wolkenlicht vereist. Als wollte das All den kühnsten Riesen der Stadt abstrafen, für seine Hochmut und sein Haupt in einen ewigen Gletscher verwandeln.

W: Na, ich weiß nicht, ob das darauf zurückzuführen ist. Auch ganz viele Hong Konger sind psychisch labil. Unsere Suizidrate ist genauso hoch wie in Japan und die Geburtenrate weltweit eine der niedrigsten. Ich habe gerade eine neue Studie gelesen, und ich glaube, fast 30 % der Menschen hier haben Schlafstörungen. Hong Kong ist einsame Spitze. Nur Tokio ist schlimmer. Die Menschen kommen nicht mehr zur Ruhe.
B: Na zumindest fällt mir auf, wie viele Leute selbst unter der Woche nach Mitternacht noch auf den Beinen sind, ganze Trauben steigen aus Taxis aus und gehen was trinken. Ich frage mich, ob die am nächsten Tag nicht arbeiten müssen.
W: Doch, die meisten werden wie ich zwischen 8 und 9.30 am zu arbeiten anfangen und hören gegen 19.00 oder 20.00 h auf. Lange Tage sind das, und kurze Nächte, Hong Kong arbeitet sich tot.

Schon wenige Meter hinter den Hochhäusern, dort, wo der Berg so steil ansteigt, dass die Stadt noch zu zögern scheint, riesige Wohntürme in die Erde zu rammen, kriecht der junge Dschungel die Hänge hinunter. Die Berge wurden vor vielen hunderten Jahren abgeholzt, doch längst bevor die Briten die Stadt im Juli 1997 an China zurück gaben, haben die Hong Konger begonnen, die Hänge wieder aufzuforsten.

B: Sag mal W, wie ist denn jetzt eigentlich die Beziehung zu China?
W: Na, sagen wir mal so, die Chinesen wissen, was sie an uns haben. Am 1. Juli 1997 hatten die Briten ihre damalige Kronkolonie Hongkong an China zurückgegeben. Manche Einwohner befürchteten damals Schlimmes, z.B. dass bald chinesische Panzer durch die Straßen rollen, wie beim Pekinger Massaker vom 4. Juni 1989. Viele besorgten sich vorsichtshalber einen kanadischen oder australischen Pass. Doch in den ersten zehn Jahren seit dem „Handover“ haben sich die Chinesen mit ihren Kreditkarten an die Rückeroberung Hongkongs gemacht, nicht mit Gewehren. Chinas rote Kaiser respektieren den Kapitalismus in Hongkong nicht nur, sie nehmen sogar freudig daran teil.
B: Du meinst, Hong Kong bleibt auch in Zukunft eine freie Stadt?
W: Gut. Jetzt gibt es also immer noch den 50 Jahre gültigen Vertrag mit Großbritannien, wonach sich in Hong Kong bis 2047 nichts Grundsätzliches ändern darf. Aber weißt du was? So wie ich China kenne, werden wir ab 2048 den Rechtsverkehr bekommen. Oder glaubst du, die lassen uns dann immer noch auf der linken Seite fahren? Und das ist dann nur der Anfang…

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