Samstag, 17. März 2012

Das Tet-Fest der Familie Nguyên

Die Ankunft

Wenn ich mit billigen Fluggesellschaften fliege, überkommt mich bei der Landung ein Gefühl von Dankbarkeit. So stimme ich klatschend in den aufbrechenden Applaus ein, der der geglückten Landung der Aeroflot Maschine auf dem Saigoner Flughafen folgt. Die Mehrzahl der Passagiere sind Russen, die im Süden Vietnams essen, einkaufen und baden gehen wollen. So zumindest erklärte es mir meine Sitznachbarin Lena aus Moskau, mit der ich mich notgedrungen während des elfstündigen Fluges bekanntmache. Die knapp fünfzigjährige, attraktive Frau reist mit einer gleichaltrigen Freundin, die auf der anderen Seite des Ganges sitzt. Die Ehemänner sind ihnen davon gelaufen, ergänzt sie lachend. Jetzt würden sie ihr Geld einmal im Jahr verprassen und zwar dort, wo es warm ist. Mit hoch gezogenen Augenbrauen nimmt sie zur Kenntnis, dass ich nicht vorhabe, gleich ans Meer zu fahren, sondern das bevorstehende Tết-Fest in einer Saigoner Familie verbringen werde. Wie ich in meinem Reiseführer lese, leitet sich der Name Tết Nguyên Đán aus dem Chinesischen ab und lässt sich im Deutschen als Fest des Ersten Morgens übersetzen. Tết ist der wichtigste vietnamesische Feiertag, das Fest des neuen Jahres nach dem Mondkalender. „So, du kein Hotel?“ „Du haben Freunde?“ fragt Lena. Ich nicke. Kurze Zeit später verabschieden wir uns und verlassen die Maschine. Auf der ersten Stufe der Gangway gleißt die Vormittagssonne über das Flugfeld und ich kneife meine Augenbrauen zusammen. Ein erster Schwall von warmer tropischer Luft umfasst mich als würde ich an einem Wintertag von draußen in ein duftendes, warmes Gewächshaus treten, nur das weit und breit keine Blumen zu sehen sind. Wie sehr habe ich auf diesen warmen Empfang gewartet. Dass ich sofort zu schwitzen beginne, und der Gurt meines viel zu schweren Handgepäcks auf meinem Rücken schmerzt, kann meine Euphorie nicht eintrüben. Als mein überdimensionaler schwarzer Koffer endlich auf dem Laufband erscheint, sind die Russen längst mit ihrem schnittigen Sportgepäck in Richtung Ausgang verschwunden. Ich schultere ächzend meinen Rucksack und greife nach meiner Umhängetasche, in der mein ganzes Geld samt Pass und Rückflugtickt obenauf liegen. Mit müden Beinen wanke ich zur letzten Tür, hinter der zu meiner Überraschung Hunderte von Vietnamesen auf Angehörige warten, die alle zum Tết-Fest in Saigon erwartet werden. Das Tết Fest ist oft die einzige Gelegenheit im Jahr die Familie zu besuchen. Die ersten Kofferträger bieten mir ihre Dienste an, jemand ruft „Taxi? Taxi?“. Wo um Himmelwillen ist nur mein Freund Cuong? Ich presse die Umhängetasche eng an meinen Bauch und schiebe mich langsam durch das Gewühl. „Oh sorry“, mein Rollkoffer keult sich schon wieder im Gedränge fest. Dann endlich sehe ich Cuong. Er lächelt amüsiert, weil ich bepackt bin, als plante ich meine Auswanderung. Dabei sind mehr als die Hälfte der Dinge, die ich mit mir herumtrage, Geschenke für seine Großfamilie. „Hallo Bastian!“ Wir umarmen uns flüchtig und ich drücke ihm meine Kamera und die Umhängetasche in den Arm. Bloß weg von hier… Langsam windet sich das gut gekühlte Taxi durch das Gewimmel von wartenden Autos, in denen Reisende, ohne sich umzublicken, Türen aufstoßen und andere einfach, ohne sich umzusehen, über den Damm laufen. „Es sind nur 20 Minuten nach Binh Tanh, Bastian“, beruhigt mich Cuong. Er spürt meine Erschöpfung und klopft mir beruhigend auf meine Schenkel.

Iss mal!

Die Straßen sind verstopft. Mopeds, beladen mit gelbblühenden Pflaumenbäumchen schlingern an überfüllten Autos vorbei, aus denen Koffer, Kisten und die für Südostasien so typischen graublauen Plastiksäcke zu fallen drohen, würden nicht ihre Insassen die Lasten mit den Händen festhalten. Die Stadt hat sich geschmückt. Gutgepflegte Rasenflächen glänzen saftig in der Mittagssonne, farbige Girlanden und Lichterketten hängen in hohen Tamarindenbäumen. Alles macht sich schön für das bevorstehende Neujahrsfest Tết. „Dort ist mein Haus!“ sagt Cuong, als wir um eine Kurve biegen und über eine von Schlaglöchern durchsetzte Straße holpern. „Meine Mutter hat extra für das Tết-Fest und die Heimkehr ihres Sohnes, die Fassade streichen lassen“, ergänzt er stolz. Tất Niên heißt so auch die Periode der Vorbereitung auf das eigentliche Fest, in der Häuser renoviert oder wenigstens geputzt werden. Jetzt ragt das große, zweistöckige Haus blassgrün aus der weitestgehend grauen Nachbarschaft heraus. Das helle, doppelt so große Stadthaus, gleich rechts daneben, fesselt meine Aufmerksamkeit. Dass in Asien Reiche und Arme so dicht bei einander wohnen, hat mich aus Deutschland kommend, schon oft erstaunt. „Ja, das sind unsere Nachbarn!“ kommentiert Cuong, der meinem Blick gefolgt ist. „Sie haben ein Vermögen im Handel mit Messwagen verdient. Sie haben sogar ein Monopol. Bis vor wenigen Jahren war noch unser Haus das größte.“ Der Taxifahrer hupt dreimal. Wir steigen aus. Cuong’s Mutter öffnet die schwere Eisentür und strahlt kurz ihren Sohn an. Mich streift ein flüchtiger Blick, bevor sie zur Seite geht, um mich, keine besondere Regung zeigend, in das Innere des Hauses zu lassen. Hung, seine 15jährige Nichte sitzt an einem Computer in der Eingangshalle und chattet mit ihrer Freundin. Sie dreht sich nicht einmal um. Ich stoße ein freundliches „Hello“ über meine Lippen, doch sie reagiert nicht. Erst als Cuong ihr auf die Schulter klopft, schaut sie sich fragend um und lächelt verschmitzt. Sich höflich zu begrüßen wurde in Vietnam nicht erfunden, denke ich, und ziehe mir, wie es hier üblich ist, meine Schuhe aus.
Noch bevor ich das ganze Haus sehen darf, stellt seine Mutter fünf Teller und Schüsseln mit unterschiedlichsten Gerichten auf den Tisch in der geräumigen Küche und gibt mir zu verstehen, dass ich Platz nehmen soll: „An di!“ sagt sie, was so viel bedeutet, wie „iss mal!“. Ich bin über das opulente Essen überrascht, gebratenes Entenfleisch, Salzwasserfisch mit Ingwer, eine dampfende Nudelsuppe und Meeresfrüchtesalat. Vergeblich suche ich Augenkontakt zu ihr, um mich, des Vietnamesischen nicht mächtig, wenigstens mit einer Geste bedanken zu können. Sie aber schlürft beschäftigt hin und her und sieht an mir vorbei. „An di!“ Meine Mutter sagt, du sollst endlich zu essen anfangen. „Wo kann ich mir denn die Hände waschen?“ frage ich Cuong und dieser zeigt auf eine Tür im hinteren Teil der Küche. Dort ist das Bad der Eltern, die hier im Parterre wohnen. Zwei völlig verbogene Plastikzahnbürsten stehen auf der Konsole. Ich schließe die Tür und schaue in den Spiegel, über den gemächlich eine Spinne mit langen Beinen kriecht. Durch ein kleines Fenster fällt gedämpftes Licht in das geräumige Bad, dessen blassblaue Farbe wegen der hohe Luftfeuchtigkeit an vielen Stellen von den Wänden blättert. Ich gehe zurück in die Küche und beginne zu essen. Cuong isst mit, obwohl er keinen Hunger hat, wie er sagt. Er will mit Gesellschaft leisten und legt ein großes Stück Fleisch auf meinen Teller, bevor er meine Schale mit Reis füllt. Obwohl auch ich keinen Hunger habe, schmecken mir die Gerichte über alle Maßen. Liebe geht durch den Magen, ich glaube, dieses Sprichwort muss in Vietnam erfunden sein. Die Mutter freut sich, dass es mir schmeckt und ich grunze genießend. Dass man sich immer wie ein Kleinkind fühlen muss, nur weil man die Sprache nicht spricht. Nach dem Essen räumt seine Mutter alle Gerichte weg und wehrt meinen Versuch, ihr dabei zu helfen, energisch ab. „In Vietnam machen das die Frauen, mein Lieber!“, sagt Cuong und zeigt mir unser Zimmer im zweiten Stock. Als ich das große Bett sehe und die buntgemusterte, verwaschene Bettwäsche, die jedem deutschen Schlafzimmer einen Hauch von Exotik verleihen würde, lege ich mich, ohne einen weiteren Kommentar abzugeben, hinein. Die weiche Matratze gibt quietschend nach. Cuong schaltet die Klimaanlage und den riesigen Deckventilator an, der sich langsam zu drehen beginnt. Ich starre glücklich erschöpft nach oben, verfolge den kreisenden Ventilator über mir, der mir eine Szene aus dem bekannten amerikanischen Kriegsfilm „Apocalypse Now!“ in Erinnerung ruft. Wie im Wahn dämmert dort ein fieberschweißgebadeter Armeepilot in einem Saigoner Hotelbett der frühen 70er Jahre und wird durch die sich langsam beschleunigenden Bewegungen des Ventilators an seine Hubschraubereinsätze im tobenden Vietnamkrieg erinnert. Kurze Zeit später schlafe ich ein.

Die Blumenstraße

Irgendwann werde ich von einem leisen Knistern wach, draußen ist es jetzt dunkel. Cuong sitzt am Schreibtisch und schiebt Euro- und Vietnam-Dong-Scheine in kleine rote Kuverts. „Was machst du denn da?“ frage ich gähnend. „Ich bereite alles für das Tết-Fest vor, das morgen beginnt. In Vietnam schenken die Älteren und wohlhabenderen Familienmitglieder Geld zum Neujahrsfest. Und da wir jede Menge Besuche vor uns haben werden, und dann keine Zeit mehr ist, mache ich jetzt schon alles fertig!“. Wie praktisch, denke ich. Keine umständlichen Geschenkekäufe wie bei uns vor Weihnachten. „Und wie viel Geld packst du da rein?“ Ich stehe auf und gehe verschlafen in das zum Zimmer gehörige Bad. „Das hängt ganz davon ab, wem ich was schenke. Meiner Mutter gebe ich sehr viel, denn schließlich komme ich aus einem reichen Land nach Vietnam. Die Nichten und Neffen bekommen 50 Euro. Das ist hier schon viel Geld.“ Ich stöhne leise auf bei dem Gedanken, dass mein ganzer Koffer mit Geschenken für die Familie gefüllt ist, die größtenteils auch Cuong bezahlt hat. „Wie viel Geld bekommst du denn noch für die Geschenke, die du für mich in Berlin gekauft hast Bastian?“ Ich sage, das können wir doch später noch regeln, es sei keine Eile. Doch Cuong erklärt, dass man in Vietnam immer seine alten Schulden spätestens am Giao Thừa, dem Vorabend des Tết-Fest (Sylvester) bezahlen müsste, sondern würde man diese nicht mehr loswerden. Und dann gibt er mir das Geld. Seine Mutter ruft auf dem Handy an. Die alte Dame vermeidet es, wenn möglich, die beiden Stockwerke hinaufzusteigen. Vielleicht aber will sie auch nur unsere Privatsphäre wahren. Essen ist fertig, sagt Cuong und wartet, bis ich mich angezogen habe. Wir steigen die geräumigen Steintreppen hinunter in den ersten Stock, in dem Tante elf lebt, die jüngere Schwester seiner Mutter. Ich spähe in das große Zimmer ohne Türen, in dem an zwei Wänden Altäre mit Fotografien und Opfergaben stehen. Ein würziger Duft von Sandelholz und Lotus zieht durch den Raum. Oben an den Wänden brennen rote Lampen wie auf einem katholischen Friedhof. „Komm!“ sagt Cuong, „die Räume kannst du dir später ansehen“. Unten in der Küche haben sich mittlerweile die Nichten Nhi und Hung versammelt, Tante elf, Tante zehn und Cuong‘s Schwägerin. Alle schauen auf, als wir die Treppen hinunterkommen. Und ich grüße freundlich die versammelte Familie mit einem „Xin Chao“, das mir Cuong eben noch beigebracht hat. Niemand antwortet. Tante elf aber lächelt freundlich und Cuongs Mutter sagt: „An di!“ Ich setze mich auf einen freien Stuhl am Tisch. Die beiden Nichten blinzeln verlegen zu mir herüber, um dann genüsslich die Schrimpse zu zerlegen, die rosageröstet und nach frischem Pfeffer duftend, auf einem großen Teller in der Mitte des Tisches stehen. Tante zehn blickt unbestimmt vor sich hin und eine Mischung aus Spott und vornehmer Arroganz umspielen ihre Mundwinkel. Ihre Haare trägt sie halblang und offen, was ihr einen modernen Zug verleiht. Graue Strähnen und viele kleine Falten verraten das Alter der Anfang Sechzigjährigen, die in der Geschwisterfolge nach Cuong’s Mutter geboren wurde. Der Vorteil des Nicht-direkt-Beobachtetwerdens liegt zweifelsfrei darin, dass ich in aller Ruhe die drei Schwestern betrachten kann. Tante elf, die jüngste, Tante zehn, die mir als „Die Knausrige“ bereits von Cuong beschrieben wurde und deren Vorname übersetzt auch wirklich Geld heißt und Cuong‘s Mutter, die sich als einzige an den Esstöpfen auf dem Gasherd zu schaffen macht. Die Tür neben dem Herd ist offen und die tropische Nacht lauert launisch in dem schmalen Gang vor dem Haus, der unser Gebäude von seinen Nachbarn trennt. Zu meiner Überraschung kündigt Cuong an, wir würden heute nach dem Abendessen alle zusammen auf die berühmte Saigoner Blumenstraße in den angrenzenden ersten Bezirk fahren. Das Taxi habe er schon bestellt.
Nach dem Essen verschwindet seine Mutter für eine viertel Stunde, um mit einem schwarzweiß gemusterten Hosenanzug und glitzernden Ohrringen wiederzukommen. Auch die Tanten haben sich umgezogen und so steigen wir gemeinsam in das geräumige Taxi, das bereits vor dem Haus wartet. Und das geht so vonstatten. Tante zehn setzt sich, ohne einen Funken von Umsichtigkeit zu zeigen, auf den Beifahrersitz und schlägt die Tür lautstark zu. Cuong schiebt mich als ersten durch die Seitentür und gibt mir zu verstehen, dass wir beide (mit den längsten Beinen) auf der zweiten Rücksitzbank direkt am Wagenende Platz nehmen sollten. Dann schnappt die Rückenlehne zurück und Nichte Hung schmeißt sich, aus einem Grund, den ich noch nicht kenne, mit aller Kraft auf den ersten Rücksitz. Ich sitze eingequetscht auf dem hintersten Sitz und die Rückenlehne saust mit Wucht gegen mein linkes Knie, das ich aus Platzmangel sowieso schon schräg weggedrückt habe. Ich frage Cuong, was denn mit seiner Nichte los sei. Flüsternd, als würde hier jemand Deutsch verstehen, erklärt er mir, dass alle wüssten, dass sich Hung im Auto immer übergeben müsste und sie deswegen lieber vorn gesessen hätte. „Dort, wo Madame, also Tante zehn, mal wieder Platz genommen hat!“ Tante elf, Nichte Nhi und Cuongs Mutter nehmen behutsam auf dem ersten Rücksitz Platz, wobei Tante elf Hung zärtlich über das Haar streichelt. Das Taxi fährt langsam los. Schon auf der nächsten Hauptstraße schieben sich Kolonnen von Mopeds und Autos Richtung Innenstadt. Alles hupt oder springt im letzten Augenblick zur Seite. In der Abenddämmerung glimmen tausende von farbigen Lichtern auf, die in den letzten Tagen angebracht wurden. Das Farbenmeer nimmt an Intensität zu, je größer die Alleen im ersten Bezirk werden. Wer kann, begrüßt das herannahende Neujahr mit Reklamen, Wimpeln und Fahnen, allen voran die hohen Regierungsgebäude, Firmensitze und Hotels.
In der Nähe des alten Grandhotels „Majestic“ steigen wir aus. Ich schaue kurz hoch zur legendären Hotelterrasse, auf der ich vor drei Jahren, das erste Mal in Saigon, einen Cocktail mit einem französischen Freund geschlürft habe. Riesige, blauweißgestreifte Sonnenschirme versprühen eine sommerliche Leichtigkeit, die sich in Vietnam nur wenige leisten können. Das Hotel direkt am Saigon-River ist eine Legende und seine Türsteher passen auf, dass nicht der verzweifelte Alltag der Armen ins Hotel quillt, die jeden Tag auf kleine Geschäfte lauernd, die Prachtstraßen des ersten Bezirkes bevölkern. Schon ruft mich Cuong, denn im Gewühl der Massen drohe ich den Anschluss an meine neue Familie zu verlieren.
Der Prachtboulevard Nguyen Hue im ersten Bezirk ist völlig verstopft. Auf der achtspurigen Allee, der durch einen Mittelstreifen getrennt ist, schieben sich staunende Massen von Vietnamesen in entgegengesetzten Richtungen an opulenten Blumenrabatten vorbei, die über Nacht angelegt wurden. Rote, weiße, gelbe, zartrosafarbene Orchideen, soweit das Auge reicht, blühende Pflaumenbäume, leuchtende Calla, ein Meer von Lilien, deren Duft berauschend hinüber weht und vom Scheinwerferlicht angestrahlte grüne Reisfelder, die jede Frühlingsschaufensterdekoration in Deutschlands besten Kaufhäusern verblassen lassen.
Reisfelder im Herzen von Saigon, eine Hommage an die Millionen von Reisbauern, die bis heute im Mekong-Delta die Versorgung des Landes mit dem wichtigsten Nahrungsmittel garantieren. Immer wieder rempeln mich Menschen an, tritt jemand von hinten auf einen meiner schlappenden Flip-Flop, was in einem großen Kontrast steht zu der eigentlich distanzierten Körperkultur der Asiaten, in der körperliche Nähe in der Öffentlichkeit weitestgehend untersagt ist. Das Schupsen, Treten und Drängeln ist davon ausgenommen! Vor dem bekannten Hotel Rex, an der Kreuzung Nguyen Hue/Le Lói, steigt ein riesiger gelber aufgeblasener Drache in den Nachthimmel, auf den Nichte Nhi aufgeregt zeigt. Schon zerrt sie Tante elf und Cuongs Mutter in seine Richtung, die sich hilflos nach uns umsehen, bevor sie im Getümmel verschwinden. Wir eilen hinterher. Der Drache ist in Vietnam ein uraltes Symbol, das langes Leben, Glück und Zufriedenheit verkörpert. Er symbolisiert auch Macht, Stärke und göttlichen Schutz und hat damit viel stärker als sein westliches Pendant eine positive Bedeutung, was ihn unverzichtbar macht, wenn es darum geht, mit neuer Hoffnung das anbrechende Jahr zu begrüßen. Sogar die Konturen von Vietnam, seine Küstenlinien und Landesgrenzen, sagen viele, glichen einem Drachen. Doch heute Nacht gelangen wir nicht sehr nahe heran an den schwebenden Glücksbringer, denn Massen von vietnamesischen Familien bilden einen undurchdringlichen Wall und wir geben auf. Ein Taxi in einer der Seitenstraßen nimmt uns gegen 21.30 h auf und wir fahren zurück nach Binh Tanh, wo sich, im Gegensatz zum Quan 1, dem ersten Bezirk, die letzte Nacht des alten Jahres in aller Ruhe verabschiedet.

Der erste Besucher

23.30 Uhr. Ich muss eingeschlafen sein. Jemand klopft an die Tür. „Das ist meine Mutter“, sagt Cuong. Ich stehe auf und spüle mir etwas Wasser über mein Gesicht. „Los komm mit, wir steigen aufs Dach!“ Cuong geht hinaus zu seiner Mutter, die auf der Terrasse im zweiten Stock kniet und ein kleines Feuer anbläst, das sie in einem verrußten alten Kochtopf entfacht hat. Auf dem kleinen Hausaltar liegen frische Früchte und der Rauch von brennenden Räucherstäbchen kringelt sich durch die windstille, warme Nacht. Immer wieder schmeißt sie Opfergeld in die Flammen, damit es den Ahnen im Jenseits, die in Vietnam wie in anderen asiatischen Kulturen zwar gestorben sind, doch deren Macht auf die Lebenden ungebrochen ist, an nichts mangelt.
„Hol doch bitte mal den Wein von unten und drei Gläser, dann können wir anstoßen!“ Dankbar für Cuong’s Bitte, die mir das Gefühl gibt, Teil der geschäftigen Neujahrsvorbereitungen in diesem vietnamesischen Haus zu sein, gehe ich in die Küche hinunter, um den gekühlten Weißwein zu holen, den ich noch auf dem Moskauer Flughafen gekauft habe. Tante elf kniet im ersten Stock vor einem anderen Hausaltar und betet. Ich schleiche mich leise vorbei. Oben auf dem Dach stehen Cuong und Hung auf einer Mauerbrüstung, die ihnen einen unverstellten Blick auf Saigons ersten Bezirk ermöglicht. Ich gieße den kalten Wein in die Gläser und wir stoßen an: „Happy New Year!“ Sekundenspäter steigt ein Feuerwerk auf und zerreißt den dunklen Himmel der Nacht über dem ersten Bezirk. Hung grinst und stellt das leere Glas auf das Tablett: „Yummy!“ Sie hat den Wein in einem Zug ausgetrunken. Cuong spürt meine Verwunderung und kommentiert amüsiert, dass seine Nichte bemüht sei, einen starken Mann zu markieren. Darin würde sie sich von anderen vietnamesischen Mädchen unterscheiden, die mit 15 Jahren niemals Alkohol trinken. Wieder leuchten Raketen auf, blutrote Feuerbälle, funkelnde Sterne und ein fernes Donnern. Da in Vietnam das Feuerwerk seit dem 1. Januar 1995 gesetzlich verboten ist, richtet die Stadt selbst ein großes Feuerwerk aus, um das neue Jahr zu begrüßen und mit dem Donnern die bösen Geister zu vertreiben. Am nächsten Morgen beginnen dann die eigentlichen Feiern zum Tết. Als ich mich wieder umdrehe, ist Hung plötzlich verschwunden. Auch Cuong’s Mutter muss schon ins Bett gegangen sein. In beiden Etagen blicken die Ahnen aus alten Fotografien, umkränzt von Lotusblumen, ernst und versonnen in die erste Stunde des neuen Jahres, ohne sich eine besondere Regung anmerken zu lassen. Wir verlassen leise das Haus, um in einem naheliegenden Tempel für ein gutes neues Jahr zu beten. Aus vielen Gassen des Viertels strömen ganze Familien hin zum Tempel, durch den sich jetzt gegen ein Uhr morgens Tausende schieben. Sie halten einen kleinen, gedrehten Bambus in den Händen, dessen junger Trieb um ein Stück Holz gewickelt ist. Bambus gehört zu den am schnellsten wachsenden Pflanzen in Asien. Wenn sein Stamm im neuen Jahr mit großer Schnelligkeit in die Höhe schießt, werden an seinen filigranen Zweigen Blätter sprießen und mit ihnen die Hoffnung auf viel Geld, wie mir Cuong erklärt. Schenken Vietnamesen zum Tết einen „Lucky Bamboo“ oder Geldbaum, drücken sie damit ihre Hoffnung aus, der Empfänger möge im neuen Jahr Glück haben, was in Südostasien vor allem Wohlstand bedeutet. Die Luft im Tempel ist von beißendem Qualm erfüllt. Vor den goldenen Altären türmen sich Geschenkekörbe gefüllt mit Lebensmitteln und ein alter Mönch prophezeit mit sonorer Stimme das Schicksal einer knieenden Familie aus magischen Karten. Cuong schiebt mich weiter zu einem Nebenaltar, auf dem drei glattlackierte braune Holzfiguren stehen, die Götter Phuóc, Loc und Tho. Phuóc verkörpert das Glück, Kinder zu bekommen, was traditionell bedeutet, viele Söhne zu haben. Loc verheißt das Glück, Geld zu haben und Tho steht für den Wunsch nach einem langen Leben. Die Götter haben lange Bärte und tragen alte Trachten im chinesischen Stil. Sie sind Teil des Ensembles des Mahayana Buddhismus, der Schule der großen Gemeinde, in der erleuchtete Wesen, Bodhisattvas genannt, darauf verzichten, ins Nirwana einzugehen, um statt dessen allen anderen Menschen zu helfen, ebenfalls das buddhistische Paradies zu erreichen. Als wir gegen zwei Uhr morgens nach Hause kommen, lässt mir Cuong an der Eingangstür den Vortritt. Ich gehe leise hinein, verwundert, weil ich in der Dunkelheit nicht erkennen kann, wo der Lichtschalter ist. Als ich mich fragend umdrehe, sagt Cuong, dass der erste Mensch, der in Vietnam am Anfang des neuen Jahres ein Haus betritt, ein Glücksbringer ist. In Vietnam betritt man zum Beginn des Tết-Festes nie ein fremdes Haus ohne ausdrückliche Einladung. Eingeladen werden Menschen, die im alten Jahr Glück hatten oder die generell als Glücksbringer gelten. Dann schaltet er das Licht ein „In Vietnam sollte das ein Mann sein!“ ergänzt er verschmitzt.

Tân Niên – Der erste Tag

Die Straße vor dem Haus liegt ruhig in der Morgensonne. Ein herrenloser Hund schnüffelt an einem Kehrhaufen vor dem kleinen Schuppen gegenüber, der wie alle Häuser in Vietnam vor dem Tết Fest gründlich geputzt wurde. In der Küche unten auf dem Tisch hat Cuong‘s Mutter einen bánh chưng gestellt, einem rechteckigen Klebreiskuchen, gefüllt mit Bohnen und Fleisch und umwickelt mit großen Blättern. Cuong erklärt mir, Kaffee in einem kleinen Aluminiumgeschirr zubereitend, das dieser Kuchen seiner Mutter von einer Obsthändlerin vom nahen Markt geschenkt wurde. Er ist ein Symbol für die Erde, der zusammen mit dem Kuchen bánh tét, dem Symbol für den Himmel, zu jedem Tết-Fest gehört. Während ich den heißen, mit Kondensmilch gesüßten Kaffee schlürfe, bittet er mich, mich nach dem Frühstück gut anzuziehen, denn wir würden bald aufbrechen, um Verwandte zu besuchen. Die Nichten kommen aufgeregt in die Küche und Cuong steckt ihnen, beste Gesundheit wünschen („Sức khoẻ dồi dào“) je ein rotes Schmuckkuvert in die Hände. Sie bedanken sich kichernd und reißen die Kuverts auf. Auch ich übergebe schweigend zwei kleine Kuverts und breite meine Arme aus, um Hung zu umarmen, doch sie schnellt scheu zur Seite.
Tante elf kommt aus dem ersten Stock hinunter in die Küche. Sie trägt eine festliche, tiefblaue Bluse und eine strahlendweiße Hose. Ich eile nach oben, um mich umzuziehen.
Fünf Minuten später nehme ich als letzter Platz auf einem der drei Mopeds, mit denen wir aufbrechen, um Verwandte zu besuchen. Die Vormittagssonne brennt auf meiner dunklen Anzughose, wenigstens habe ich mir erlaubt, leichte Turnschuhe zu tragen. Wir fahren los. Der Fahrtwind bläst mir erfrischend ins Gesicht und kühlt den Schweiß unter meinem langärmeligen Hemd. Das Viertel ist ausgestorben. Wer irgend kann, besucht seine Angehörigen in den Provinzen. Halb Saigon ist verreist. In kleinen Geschäften opfern Inhaber ihren Ahnen, möge auch das neue Jahr Geld in den Laden spülen. Als wir vor dem vierstöckigen verrußten Haus von Tante zehn ankommen, klingeln wir mehrmals, doch niemand öffnet. Schließlich kommt ein kleiner gelber Hund an die vergitterte Tür und bellt uns unfreundlich an. Kurze Zeit später schlurft Tante zehn an das Tor und öffnet umständlich die schweren Gittertüren, die wie in anderen Ländern Südasiens jedes Wohnhaus in eine kleine Festung verwandeln. Wir steigen eine kleine Treppe hoch in den dritten Stock und nehmen wie selbstverständlich im Schlafzimmer der Tante Platz. Ihr Ehemann sitzt im Jogginganzug im zweiten Stock und schaut gelangweilt fern. Er sei schon lange krank, sagt mir Cuong. Im Fernseher der Tante läuft eine typische vietnamesische Gesangsshow. Dass der Ton viel zu laut ist, stört hier niemanden. Sieben Vietnamesen lümmeln nun im Bett von Tante zehn, auf dessen Rand ich unbequem sitze. Entgegen meiner Erwartungen bietet uns die Gastgeberin nichts anderes an außer der Intimität, in ihrem Bett zu liegen. Alle beobachten die eineinhalbjährige Tochter von Cuong’s Bruder, die staunend in die Mitte des Betts gesetzt wurde. Von den Verwandten gezwickt und geknufft, versucht sie sich in die Arme ihrer Mutter zu retten, die sie aber nach Sekunden wieder zurück in die Mitte des Bettes setzt. So haben alle was davon, schmunzle ich in mich hinein. Und wieso oft, ersetzt die gebannt gerichtete Aufmerksamkeit auf die kleinsten Familienmitglieder, die schon ganz verwöhnt flirten, ein Gespräch unter den Erwachsenen, welche sich heimlich wünschen, dass es den Kindern in einer fernen Zukunft hoffentlich besser gehen wird als ihnen, die durch Krieg und Krankheiten so viele Angehörige verloren haben…
Nach einer halben Stunde geht ein Rück durch die Familie und wir brechen, uns bedankend, auf, fahren vorbei am Markt von Binh Tanh, der heute geschlossen hat, obwohl vor dem Haupteingang arme Vietnamesen Berge von billigen Gebrauchttextilien durchwühlen, in der Hoffnung jetzt zum Tết-Fest ein Schnäppchen zu ergattern. Zehn Minuten später halten wir vor einem prächtigen, dreistöckigen Tempel, an dessen Fuß ein kleiner Baumbestandener Friedhof den Bauwahn der boomenden Metropole überlebt hat. Cuong sagt, wir würden jetzt das Grab der Mutter seiner Mutter besuchen. Rechts neben dem Tempel sitzt eine schöne, gutgekleidete Frau mit einer riesigen Sonnenbrille und schaut neugierig zu uns herüber. Tante elf fegt das Grab und legt Früchte auf die steinerne Grabstelle, bevor sie betend niederkniet. Nur wenige Gräber sind noch erhalten und wie mir Cuong sagt, würde die Stadt mehr und mehr vom Gelände des einst großen Friedhofs für Bauvorhaben freigeben. Die Lebenden drängen in das Reich der Toten, es gibt woanders keinen freien Platz mehr. Dann geht es weiter zum Haus von Onkel sieben. Dieser sitzt, gut bekleidet, in der Eingangshalle eines stattlichen Hauses, das früher Cuong‘s Großmutter gehört hat. Ich stelle mich hilflos vor, noch immer bin ich der zahlreichen vietnamesischen Grußformen kaum mächtig. Er antwortet in Französisch, was meine Situation noch verschlimmert, denn nun kann nicht einmal mehr Cuong übersetzen. Als ich mir radebrechend drei, vier französische Sätze über die Lippen quäle, lacht er schallend auf, während seine Frau einen großen Teller von geschnittenen Wassermelonen auf den Tisch stellt und eine Schale mit gerösteten Melonenkernen. Onkel sieben ist fast blind. Lächelnd starren seine Augen in eine Ecke des Raumes, doch seine Mimik ist äußerst lebendig, als wollte er den Verlust eines Sinnesorgans mit großer Lebendigkeit ausgleichen. Sein Sohn kommt mit einem Kleinkind die Treppen herunter und begrüßt alle Besucher, die dem Kind rote Kuverts zustecken, die dieses achtlos fallen lässt. Der Onkel, so übersetzt Cuong, war zur Zeit der Franzosen ein hoher Beamter und Repräsentant des alten südvietnamesischen Regimes. Nachdem die Panzer der Vietcong das eiserne Tor zum südvietnamesischen Präsidentenpalast in Saigon aufgesprengt haben und das Regime unterging, wurde er mehrere Jahre eingesperrt und in einem kommunistischen Lager umerzogen. Danach hat er nicht mehr gearbeitet, obwohl er erst knapp 40 Jahre war, sondern sich von seiner Frau ernähren lassen. Ich beobachte den Onkel, der Cuong freundlich nach seinem Leben in Deutschland ausfragt, wobei er längst schon wieder Vietnamesisch spricht. Nur zum Abschied ruft er mir ein „Au Revior“ und „Bon voyage!“ hinterher, bevor wir weiterfahren hin zum Haus von Onkel fünf. Die Mittagsonne brennt heiß, keine Wolke zieht über den strahlend blauen Himmel und ich bin dankbar für jeden Schatten, in dem sich auch die wenigen Passanten auf den Straßen flüchten. Das Haus von Onkel fünf ist klein und zieht sich geduckt um eine Ecke, als wollte es sich verstecken. Dafür ist die Stimmung im Inneren, so wie ich mir eine vietnamesische Großfamilie an einem hohen Feiertag vorstelle. 26 Vietnamesen sitzen auf schwarzweiß gekachelten Bodenfliesen und spielen in sechs kleinen Gruppen lautstark Karten. Als wir eintreten, schweigen alle einen kurzen Augenblick, tauschen Neujahrsgrüße aus und setzen lachend das Spielen fort. Die erste Ehefrau von Onkel fünf bittet uns freundlich, auf Stühlen Platzzunehmen, die von unsichtbaren Händen in das überfüllte Zimmer gereicht werden. „Ngoi di, ngoi di!“ sagt sie herzlich, setzt euch doch! Onkel fünf hat, wie mir Cuong ins Ohr flüstert, zwei Frauen. Doch die jüngere von beiden lebt nicht unter diesem Dach. Schon landet ein Teller mit gebratenen Schweineohren und frischem Pfeffer auf meinen Schenkeln, während Cuong ein Schälchen mit in Salzlake marinierten Zwiebelherzen gereicht bekommt. Die Kronenkorken von zwei Bierflaschen knacken nacheinander und Bier der Marke Saigon sprudelt über große Eisstücke in unsere Gläser. Zum Wohl allerseits. Wir stoßen an und einige der Spielenden schauen zu mir herüber, tuscheln und feixen. Dann setzt sich die erste Ehefrau zu mir, ihr Gesicht ist faltig und ihre Haare vollständig grau. Nur wenige Zähne sind ihr geblieben, was ihrem Wunsch nach Unterhaltung keinen Abbruch tut. Strahlend redet sie auf mich ein, mir direkt in die Augenschauend, und zwar so schnell, als sei ich des Vietnamesischen vollkommen mächtig. Cuong versucht den freundlichen Wortschwall zeitnah zu übersetzen. 12 Kinder hätte sie ihrem Mann geboren, sagt sie und weitere fünf seien von der zweiten Frau. Schon jetzt hätte sie 64 Enkel und schaut stolz in die Runde. Obwohl sie Anfang 70 ist, sitzt sie mit einem angezogenen Knie auf ihrem geschnitzten Holzstuhl wie ein junges Mädchen und zwinkert mir zu.
Dann dreht sich ein dickes Mädchen nach uns um und wirft uns einen Luftkuss zu, dass alle lachen. Sie hat kurze Haare und könnte auch als Junge weggehen. Kräftig schlägt ein ebenso dicker Junge auf ihre Schulter und die gesamte Runde bricht in ein Grölen aus. Mädchen kreischen auf, halten sich die Hände vor dem Mund und Jungen klatschen sich jauchzend auf ihre Schenkel. Ein Witz muss die Runde gemacht haben. Und wirklich, sogar die alte Dame neben mir schüttelt den Kopf, Empörung vortäuschend, bevor sie ihr Gesicht hinter ihren zwei Händen versteckt, um einen Lachanfall zu verbergen. „Was ist denn passiert?“ frage ich Cuong. Dieser übersetzt in Windeseile, denn ein weiterer Witz macht bereits die Runde, was alle zum Lachen gebracht hat. „Die Dicke hat, mit einer großen Portion Selbstironie erzählt, dass ihr die Jungs aus der Schulklasse neulich ein Kompliment gemacht hätten. Sie hätten ihr hofierend gesagt, ihre Lippen seien so schön geformt und rund wie Weintrauben. Und da es keine teureren Früchte in Vietnam zu kaufe gäbe, freute sie sich über die ungewohnte Aufmerksamkeit und schäkerte geschmeichelt mit denen, die sie sonst nur mit Hohn strafen. Nach der Schule berichtet sie ihrer Mutter mit hüpfendem Herzen von der unerwarteten Freundlichkeit der Jungen. Doch diese klärte sie lakonisch auf. Das sei kein Kompliment gewesen du Dummerchen, sondern ein weiterer, böser Streich!“ Ich schiebe mir ein weiteres knuspriges Schweineohr in den Mund als mich Cuong knufft. „Es geht weiter!“ Die Verabschiedung ist noch herzlicher als die Begrüßung und winkend verlassen wir das Haus. „Fahren wir schon nach Hause?“ frage ich Cuong, der mit hoher Geschwindigkeit in unser Viertel einbiegt. Gerade bin ich auf den Geschmack gekommen. „Ja“ entgegnet er, „Tante elf ist müde! Wir essen jetzt was und machen dann Mittagsschlaf.“ Als wir vor unserem Haus ankommen, fallen mir Hunderte von Spielkarten auf, die hier herumliegen. Ich hebe eine auf, einen Karokönig. „Was willst du den mit dem?“ fragt mich Cuong neugierig. Vietnamesen, sagt er, spielen nur mit neuen Karten. Am Nachmittag passiert nichts. Ich rekele mich im Bett und genieße den Augenblick, weil auch die Zeit nichts Besseres vorhat als einfach nur zu verstreichen. Gegen fünf fällt der Strom aus und der Deckenventilator bleibt nach einigen Drehungen stehen. In wenigen Sekunden kriecht die tropische Hitze ins stickige Zimmer. Ich stehe auf und gehe auf die Terrasse, um die Pflanzen zu sprengen. Drei junge Mädchen spielen Versteck im zweiten Stock des Hauses nebenan. Sie toben hinter Vorhängen. Eines der Mädchen kriecht unter das Bett. Die Kleinste aber, vielleicht fünf Jahre alt, stellt sich in eine Zimmerecke und verschließt einfach die Augen. Vielleicht hofft sie ja, dass sie, die niemanden sieht, auch von anderen nicht gesehen werden kann. Und tatsächlich, das größte Mädchen pirscht sich an ihr vorbei, sucht umständlich hinter Türen und Stühlen und findet schließlich ihre Schwester unter dem Bett. Diese schimpft, als wollte sie sich über die Ungerechtigkeit beschweren.
Schnell verschwindet das Wasser in den großen Pflanzenkübeln, zwischen denen sich schon wieder zahlreiche trockene Blätter angesammelt haben. Doch während des Tết-Festes dürfen die Häuser nicht gefegt werden, weil man in Vietnam glaubt, dadurch auch das Glück aus dem Haus zu kehren. Nach sechs ruft Tante elf, dass es wieder Strom gibt und ich verlasse die Terrasse. Die magischen Farben der tropischen Dämmerung verglühen über dem grauen Häusermeer Saigons und die untergehende Sonne verwandelt die weißen Haufenwolken in rosagelbe, blutrote Gebirge, nach denen schon die Nacht im Osten mit schwarzblauen Händen greift.

Tân Niên – Der zweite Tag


Eigentlich, so dachte ich mir nach dem Frühstück, sollte ich mich jetzt wieder umziehen. Weitere Familienbesuche sind geplant. Ich warte geduldig auf ein Zeichen. Stattdessen fragt mich Cuong, ob ich nicht Lust hätte, mit ihm, seiner Mutter und den beiden Nichten Karten zu spielen. Als ich nicke, bittet er mich noch kurz, dass ich mein Geld mitbringen soll. Geld? Ich folge ihm ins Schlafzimmer seiner Mutter, in dem die Klimaanlage für gefühlte Null Grad sorgt. Die beiden Nichten strahlen und zeigen mir ihre roten Kuverts, deren Inhalte sie jetzt zum Einsatz bringen. Während des Tết-Festes dürfen Kinder in Vietnam ihr geschenktes Geld zum spielen ausgeben, werde ich belehrt. Cuong‘s Mutter kommt dazu und stellt einen Teller mit mứt dừa, getrocknetem und kandierten Kokosnussfleisch auf das Laken, bevor auch sie sich auf eine Ecke ihres Bettes setzt. Wie viele Menschen doch in ein vietnamesisches Bett passen, wundere ich mich. Schon wieder sitze ich in einem vietnamesischen Schlafzimmer und lasse mir Spielregeln erklären. Nach und nach räumen die Nichten ihre Kuverts aus, verlieren und gewinnen, die schmutzigen Dong-Scheine wechseln ihre Besitzer, bis Tante elf den Kopf ins Zimmer steckt. Tante zehn hätte angerufen, sagt sie, ihr Mann hätte Hunger. Wieso kocht sie denn nicht selbst, frage ich mich und Cuong, der meine Gedanken gelesen haben muss, sagt spöttisch, seine Mutter würde schon immer für Tante zehn mit kochen, sonst verhungert am Ende noch ihr kranker Mann. Tante elf setzt sich mit fünf, mit leckeren Speisen gefüllten Stapeltöpfen auf das Moped, um ihrer Schwester das gewünschte Essen zu bringen. Nach einer viertel Stunde kommt sie zurück. Sie ist sichtbar verärgert. Alle reden auf sie ein und ich frage Cuong, was passiert sei. Tante elf sei mit dem Moped in ein Schlagloch gefahren und hätte dabei das gesamte Essen auf der Straße verloren, entgegnet er kurz, bevor Cuongs Mutter, Tante elf beruhigen, die Töpfe zum zweiten Mal füllt. Tante elf aber weigert sich, ein weiteres Mal zu fahren, was die Sache noch komplizierter macht. Schließlich wird Cuongs Bruder angerufen und gebeten, das Essen abzuliefern. Ohne eine Miene zu verziehen, kommt dieser in zehn Minuten und nimmt gleich seine beiden Töchter mit, die trotzig protestieren. „Fahren wir denn heute niemanden besuchen Cuong?“ frage ich, denn mit dem Verschwinden der Nichten gibt es aus meiner Sicht auch keinen Grund mehr, weiter Karten zu spielen. „Ich weiß es auch nicht, meine Mutter macht keine Anstalten, die Familie ihres verstorbenen Mannes zu besuchen. Ich habe zu denen auch schon längere Zeit keinen so engen Kontakt mehr!“. „Aber“, so entgegne ich, „das ist doch die Familie deines Vaters!“ Cuong zieht lediglich die Achseln hoch. Ich stehe auf und gehe in den zweiten Stock, in dem ich mich beinahe schon zu Hause fühle. Ruhig betrachte ich die Ahnenfotos, vor denen sich Netzannonen, Pomelo, Kokosnüsse, Papaya und Mangos türmen. Cuong‘s Großeltern mütterlicher – und väterlicherseits. Sein eigener Vater in einem Anzug, ein Bild aus den frühen siebziger Jahren. Wenige Jahre später schon starb er an einem Gallenversagen. Cuong kann sich an ihn nicht erinnern. So viele Tote in einem ganz normalen Haus. Ihre Anwesenheit und die täglichen Rituale zu ihrer Verehrung machen deutlich, wie sehr die Vietnamesen mit ihren Vorfahren leben, sie respektieren und die Beziehungen zu ihnen pflegen. Eigentlich, ahne ich, ist man in solch einem Raum nie ganz allein, sondern von einer Vergangenheit umgeben, die noch gegenwärtig ist.

Süß und salzig so wie das Leben

Ein unerträglicher Gestank macht sich plötzlich im ganzen Haus breit. Selbst im zweiten Stock kriecht er durch verschlossene Türen und hält sich beißend im Treppenhaus. Angewidert mach ich auf den Weg, die Ursache der Verpestung zu ergründen. Der Rauch kommt zweifelsfrei von unten. Grübelnd steige ich die Treppen hinab und halte mir die Nase zu. Unten in der Küche steht Cuong am Gasherd und grillt an einer offenen Flamme einen Tintenfisch. Seine langen Tentakel glühen im Feuer auf, bevor Cuong den ledrigen Kraken wendet. Er schaut mich lachend an, wie ich mir, die Nase zuhaltend, in die Küche komme. „Stinkt furchtbar, aber schmeckt wunderbar, das ist eine Delikatesse Bastian!“ Der unerträgliche Gestank quält sich langsam durch die offene Tür. Ich schalte den Küchenventilator ein. „Das ist ein beliebter Snack für zwischendurch, den man mit einem Bier trinkt, wie in Deutschland Salzstangen oder Erdnüsse!“ feixt Cuong. Tante elf sitzt wieder gutgelaunt am Tisch und schält gelbe Mangos, die in den letzten Tagen vor den Bildern der Toten auf den Altar ihres im letzten Jahr verstorbenen Mannes reif geworden sind. Ihr scheint der Gestank auch nichts anzuhaben. „Es riecht nach akuter Verwesung Cuong!“ entgegne ich spitz und will mich aus dem Staub machen. “Vielleicht gibt es auf dem Dach des dritten Stocks noch einen unverpesteten Ort“. Tante elf erkundigt sich kurz bei Cuong, was mein Problem sei und bietet mir lachend Mangos an. Ich setzte mich widerwillig an den Tisch und halte mir immer noch die Nase zu. Sie lacht vor sich hin, und bedeutet mir, sie wolle mir eine Geschichte erzählen. Cuong freut sich, dass ich, von der Aussicht auf Mangos und einer Erzählung erfüllt, wider Erwarten doch in der Küche bleibe und bietet mir bereitwillig an, alles zu übersetzen. Schließlich spräche Tante elf kein Wort Englisch, obwohl sie sechs Jahre in den USA gelebt hat. Tante elf wandert, beginnt Cuong mit seiner Übersetzung, 2003 nach Seattle aus. Sie mietet sich ein kleines zwei-Zimmer Appartement und lebt von der Miete ihrer großen Häuser in Saigon, die sie für ein kleines Leben und ihren Plänen, ihren beiden Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen, aufgegeben hat. Von Anfang an wehrten sich der Diabetes-kranke Ehemann als auch ihre Tochter und ihr Sohn gegen dieses Unterfangen. Doch Tante elf kennt kein Erbarmen, wie sie nüchtern bemerkt. Die Kinder schreiben sich in die Universität ein und kämpfen um gute Leistungen in einer anderen Sprache und mit dem Unterschied zwischen dem Bildungssystem in den USA und Vietnam. Ihr Mann, in Saigon eine beachtete lokale Persönlichkeit mit einem hohen Amt in der Stadtverwaltung, vegetiert, ohne Arbeit, ohne Anschluss an die neue Welt, während die Tante kocht und in billigen Supermärkten einkauft. Niemand ist glücklich und die Einwanderung ist ein hartes Los, besonders für die, die gar nicht einwandern wollen. Tante elf röstet auch in Seattle Tintenfische, die sie in einem asiatischen Geschäft kauft. Beim ersten Mal gehen die Rauchmelder in dem kleinen Appartement an und die Feuerwehr klingelt Sturm, um mit Gasmasken geschützt, fluchend die kleinen Fenster aufzureißen, worauf sich die Nachbar beschweren und sich bösartig erkundigen, ob jemand in der Wohnung verwesen würde. Tante elf ignoriert die Nachbarn, die sie sowieso nicht versteht und röstet weiter Tintenfische. Doch nur bei offenem Fenster und nur am Vormittag, wenn die meisten Anwohner zur Arbeit sind, wie sie bemerkt. Aus Fehlern kann man lernen, denke ich kurz, ohne sich wirklich verändern zu müssen. Ein Talent zur Anpassung, welches Millionen von Einwanderern entwickeln müssen, um in der Fremde nicht ihre eigenen Wurzeln zu verlieren.
Tante elf lebt sechs Jahre in den USA, sechs lange Jahre. Die Kinder begleiten sie zum Einkauf, wenn es etwas Besonderes zu erwerben gilt. Die normale Einkaufsliste kann sie irgendwann selbst allein abarbeiten. Sie und ihr Mann lernen nur wenige englische Worte, finden keine neuen Freunde bis auf andere Vietnamesen und die Nachbarn bleiben ihnen fremd. Ihr Mann wird mit den Jahren schwerkrank, auch wenn die medizinische Versorgung um ein vielfaches besser ist als in Vietnam, gegen seine schwindende Lebensenergie gibt es keine Medikamente. Gegen seine Krankheit gibt es, wenn überhaupt, nur noch ein Mittel: die Familie geht zurück nach Vietnam. 2009 endlich gibt Tante elf nach, sie kehrt mit ihrem schwerkranken Mann nach Saigon zurück. Sogar die Kinder wollen mit, doch Tante elf ist dagegen. Sie sollen weiter in den USA studieren. Es kann nicht alles umsonst gewesen sein. 2010 stirbt ihr Sohn in einer Discothek. Er ist erst 25. Man sagt ihr, er hätte Probleme mit dem Herzen gehabt. Für Tante elf bricht eine Welt zusammen, eine weitere, als ihr Mann 2011 stirbt. Zum Begräbnis kommt halb Saigon. Verbittert, ohnmächtig vor Wut und Enttäuschung, steht sie am Grab ihrer Träume, die sich in Alpträume verwandelt haben.
Vergrämt opfert sie jeden Tag Speisen, Tee, Kaffee, sogar Fleisch, obwohl sie selbst Vegetarierin ist, die Toten sollen nicht hungern, nicht zürnen, sondern vergeben. Sie zündet Räucherkerzen im ersten Stock an, dort wo ihr Mann und ihr Sohn neben ihren Eltern stehen. Eingerahmte Fotografien, lächelnde Gesichter, so lebendig als würden sie jeden Augenblick aus den Rahmen steigen. Tante elf kauft Bücher über Buddhismus, in denen sie täglich liest. Im Regal stauen sich schon die Bücher der östlichen Weisheitslehre. Doch noch mehr staut sich die Wut auf ihr grausames Schicksal, das ihre Gedanken und ihr Herz gefangen hält. Jeden Sonntag skypt Tante elf mit ihrer Tochter in den USA, die nicht mehr davon träumt, bis auf gelegentliche Besuche, nach Vietnam zurückzukehren. Als Tante elf die Mangoschalen wegräumt, hat Cuong schon längst aufgehört zu reden. Die Geschichte, die Tante elf mir eben erzählt hat, so schießt es mir plötzlich durch den Kopf, war ganz sicher nicht so lang. Ganz bestimmt hat sie mir nichts weiter erzählt, was über den Geruch von Tintenfisch in ihrem amerikanischen Appartement hinausgeht. Zu verschlossen ist sie, zu bemüht, zu vergessen. Ich sehe Cuong dankbar an und ahne, dass er mir diese traurige Familiengeschichte geschenkt hat. Eine Tragödie, die mit dem unerträglichen Geruch von gegrilltem Tintenfisch begann und die mit gegrilltem Tintenfisch auch ihr Ende findet. Tante elf steht auf und zerreißt den heißen Tintenfisch in kleine Streifen. Dann schiebt sie den Teller zu mir herüber. Ich schlucke betroffen etwas Speichel hinunter. „An di!“ sagt sie und geht aus dem Zimmer als würde sie irgendetwas suchen, etwas, was sie vor langer Zeit verloren hat. „Ja, koste doch mal!“ sagt Cuong und ich beiße in einen Streifen von Tintenfisch, der nach süßem Meerwasser schmeckt, süß und salzig so wie das Leben.

Das tanzende Bordell

Ein völlig übersteuertes Mikrophon quietscht aus einer kleinen Karaoke Bar, zwei Häuser entfernt und legt am frühen Abend das Viertel lahm. Dann beginnt eine junge Frau, die ich vom zweiten Stock aus in dem offenen Nachbarhof beobachten kann, zu singen an. Es ist ein bekanntes vietnamesisches Lied über die Pflaumenbäume des Südens, die zur Zeit des Tết-Festes gelb erblühen wie eine neue Liebe und mit den rosafarbenen Kirschbäumen des Nordens in einen Wettstreit treten. Cuong schlägt vor, heute Nacht auszugehen. Ich freue mich über die überraschende Aussicht, einen Saigoner Nachtclub kennenzulernen. Drei Stunden später stehen wir vor der Tür des eleganten Clubs „Lush“ und passieren die grimmigen Türwächter, die uns nach Waffen und Drogen durchsuchen. In der Eingangshalle des Clubs bringt der dumpfe Rhythmus die Origami in Fischform zum schwingen, mit denen ein meterlanges Bambusrohr geschmückt ist. Der Bambus-Neujahrsbaum ist obligatorischer Bestandteil der Dekoration des Tết-Festes wie die Zwergorangenbäume, die als Symbol den Wunsch der Familie auf ein fruchtbringendes neues Jahr verkörpern. Wir zahlen umgerechnet fünf Euro Eintritt, wissend, dass sich diese Preise nur ein Bruchteil der Bevölkerung von Saigon leisten kann. Im Club wimmelt es von Mädchen mit tiefen Ausschnitten und Miniröcken, die einen Freier suchen oder sich, wenn sie ihn gefunden haben, verliebt an die Schultern von weißen Männern lehnen, die bald schon die Stadt verlassen haben werden. Zwei Franzosen, um die 50 Jahre alt, kommen in den Club und taxieren unverhohlen die Mädchen. Nach fünf Minuten schon haben sie zwei gefunden und verlassen mit ihnen den Club, um in einem naheliegenden Hotel zu verschwinden. Eine junge rundliche Prostituierte lächelt mich die ganze Zeit an und fragt mich mit einem amerikanischen Akzent: „Can you get me a drink?“ Ich schüttle freundlich meinen Kopf und schlängele mich durch das Gewühl an die runde Bar in der Mitte des Clubs. Ein dicker Chinese verteilt dort rote Kuverts und die Barkeeperinnen mit ihren freigeschnittenen grazilen Armen fliegen ihm gierig kreischend entgegen. Jetzt gibt es Dollarscheine für alle. Er lacht schallend, weil ihm die Vietnamesinnen die Kuverts aus den Händen reißen. Ich warte einige Minuten, bis sich die Aufregung an der Bar gelegt hat und ich endlich meine bestellten Drinks bekomme. Schon nach einer guten Stunde verlassen wir den Club, der mehr an ein tanzendes Bordell als an eine Discothek erinnert. Cuong startet sein Moped und wir fahren los. Die warme Nacht legt sich mit großer Ruhe auf uns, nur einzelne Taxis kommen uns entgegen. Schon kurze Zeit später bremst Cuong sein Moped und wir halten hinter einer Gruppe von Polizeibeamten, die schüchtern, fast sanft mit ihrem schwarzen Schlagstock auf uns gezeigt haben. Cuong bittet mich abzusteigen. Das Gespräch zwischen Polizisten und ihm zieht sich hin. Cuong hat nicht nur seine Fahrzeugpapiere vergessen, sondern auch einen Cocktail getrunken, der, wie bei fast allen Asiaten seine Wangen rot glühen lässt. Immer wieder schaut er in meine Richtung und gibt mir mit einem beruhigenden Gesichtsausdruck zu verstehen, dass er die Lage unter Kontrolle habe. Leider ist dem nicht so. Plötzlich setzt sich einer der Beamten auf unser Moped und fährt 20 Meter, bremst und kehrt dann wieder zurück. Cuong verhandelt weiter und ruft mir dann in Deutsch zu „Wie immer, die wollen Geld!“. Noch bevor ich ihn fragen kann, wie viel denn, jault der Motor unseres Mopeds wieder auf und der Beamte jagt damit davon. Diesmal kehrt er nicht zurück. Der andere Beamte flucht laut und fährt auf seinem Polizeimoped hinterher. Cuong setzt sich einen Augenblick neben mich auf den hohen Bordstein. „Bastian, ich glaube, wir müssen uns jetzt ein Taxi nehmen, um nach Hause zu kommen!“ Auf dem Rücksitz erklärt er mir zynisch, dass sie 100.000 Dong haben wollten, weil die Straße, auf der wir fuhren, nicht für Mopeds zugelassen sei. „Das wäre doch aber kein Problem gewesen, Cuong“, entgegne ich vorsichtig. „Wieso haben sie uns denn jetzt das Moped weggenommen?“ „Weil ich ihnen kein Geld ohne Quittung geben wollte, ich sehe es nicht ein, die korrupten Polizisten zu schmieren. Dann zahl ich lieber das Doppelte auf dem Revier, aber es geht rechtmäßig zu. Und da müssen wir die nächsten Tage auch hin, um unser Moped wieder abzuholen. Das ist ein verdammt korruptes Land!“ Das Taxi hält vor unserem Haus und ich bezahle 75.000 Dong. Diese Fahrt geht auch meine Rechnung.

Tân Niên – Der dritte Tag

Zum Frühstück wird die Geschichte mit der Polizei zigmal erzählt. Erst der Mutter, dann den Nichten, dann Tante elf, dann Tante zehn, die wieder kaum eine Regung verzieht und dann noch einmal, als der Bruder und seine Frau kommen, um die ihre Kinder abzuholen. Der dritte Tag des Tết-Fest ist den Lehrern gewidmet. Die Nichten sollen nachmittags ihre Lehrer besuchen. Cuong wird gerügt wegen seiner Hartnäckigkeit. Tante elf kündigt an, sie würde mit Cuong zur Polizei gehen und alles erklären. „Nein!“ sagt Cuong, „auf gar keinen Fall!“ Er wolle nicht länger diese Bestechungskultur fördern. Doch alle anderen sind der Meinung, man solle doch die Sache mit der Polizei vietnamesisch erledigen. Sich kleinmachen, ducken, einfach bezahlen und keinen Widerstand leisten? Cuong widerspricht. Eine Schüssel Glasnudelsuppe mit Bambus dampft auf dem Tisch, dazu gibt es Hühnerfleischsalat und Riesengarnelen. Ich esse den Rumpf und knabbere an den Schalen, lutsche den Schwanz aus, doch um den Kopf der köstlich schmeckenden Garnelen mache ich einen großen Bogen. Langsam läuft das gelbe Gehirn der Schalentiere auf meinem Teller aus. Heimlich schiebe ich den triefenden Kopf auf Cuong’s Teller, der meinen bittenden Blick versteht und meinen Garnelenkopf unauffällig isst, wobei er nach wie vor seine Sichtweise gegen die Überzahl der anderen Familienmitglieder verteidigt. Hung kommt in die Küche und setzt sich an den Tisch. Cuongs Mutter stellt ihr einen weiteren Teller mit Essen zusammen. Genüsslich fängt sie zu schmatzen an, um mir dann lächelnd den Kopf ihrer Riesengarnele auf meinen Teller zu legen, aus dem schon wieder gelber Brei sickert. „Das ist ein Delikatesse Bastian!“ sagt Cuong schmunzelnd, „meine Nichte hat dich offensichtlich sehr gern!“ Dann erklärt er mir auf Deutsch, dass er das Problem mit der Polizei so erledigen würde, wie man das in Europa macht, korrekt eben. Seine Familie sei entsetzt, weil dieser Staat die Menschen eingeschüchtert habe. Alle könnten sich noch an das Gerücht von der Familie regimekritischer Auslandsvietnamesen erinnern, die in den USA lebend, einen Urlaub in Vietnam verbringen wollten und hier umgekommen seien. Ein Ehepaar mit drei Kindern. Sie mieteten sich ein Auto und fuhren an die Küste. An einem heller lichten Tag aber sei das Auto explodiert und alle kamen um. Niemand weiß, was wirklich passiert ist, aber man munkelt heimlich, der vietnamesische Geheimdienst könnte dahinter stecken. Nachdem Frühstück sucht Cuong im Internet eine Telefonnummer der Polizei heraus und telefoniert mit einem freundlichen Polizisten, der sich seine Geschichte anhört und ihm dann mitteilt, auf welchem Revier sein Moped steht. Er könne das Moped in vier Tagen abholen. „Aber da fliegen wir doch schon nach Hause Cuong, frag die Polizei doch, ob wir das Moped nicht einen Tag früher abholen können“, erkläre ich Cuong. „Wenn ich denen erzähle, dass wir an diesem Tag keine Zeit haben, weil wir zurück nach Deutschland fliegen, dann werden sie das Moped noch einen Tag später freigeben, glaube mir Bastian, ich kenne diese Schikanen.“
Der Tag vergeht. Die Stimmung ist gedrückt, lediglich die gelben Pflaumenbäume in der Eingangshalle erzählen von der Hoffnung auf ein glückliches neues Jahr, doch die guten Geister zum Tết-Fest müssen in ein anderes Haus eingekehrt sein. Gegen Abend treffen wir uns wieder alle am großen Küchentisch. Die Nichten sind von ihren Lehrerbesuchen zurückgekehrt, was Cuong anspornt, mit Hung über ihre Berufsideen zu sprechen. Zu seinem Entsetzen entgegnet die 15jährige, sie wolle einen Parkplatz aufmachen und an Mopedhalter vermieten. Dieses Geschäft sei schließlich das einzige ihres Vaters, das wirklich ein bisschen Geld abwirft. Cuong seufzt, dass seiner Nichte so gar nichts einfallen will, sondern sich alles nur um schnelles Geld dreht. „Das ist die falsche Erziehung!“ sagt er zu mir. Ich entgegne, Hung könne doch, genau wie er, Informatik studieren, so oft wie sie ihre Zeit chattend am Computer verbringt, was Cuong sofort wohlwollend zurück übersetzt. Hung strahlt über beide Backen und jubelt: „Gute Idee, ich studiere Informatik!“ Auch die 12jährige Nhi mischt sich jetzt ein und sagt, sie wolle später auch Informatik studieren, was alle zum Lachen bringt. Schmunzelnd raunt mir Cuong zu, dass nun wenigstens eines der Familienprobleme gelöst sei. Müde räumt seine Mutter die Teller ab, das Tết-Fest geht seinem Ende entgegen.
Am nächsten Morgen steht Cuong früh auf und fährt mit seinem Stiefvater zur Polizei. Eine, zwei Stunden des Wartens vergehen, bis er endlich vorsprechen kann. Noch einmal wird er gefragt, ob er nicht einfach 100.000 Dong in schwarz bezahlen will, was er verneint. Dann richtet man ihm aus, zwei Monate lang würde ihm der Führerschein entzogen und er müsste 800.000 Dong Strafe zahlen. Das Achtfache des Schwarzgeldes. Er willigt ein, denn schließlich sei er in jener Nacht aus Versehen auf einer Straße gefahren, in der Mopeds verboten seien. Mit einem Ruck fliegt die Tür im Polizeirevier auf und Tante elf steht in der Türschwelle, daneben seine Schwägerin mit dem weinenden Kleinkind im Arm. Alle starren sekundenlang zur Tür, ein Bild des Erbarmens! Cuong schluckt einen Anflug von Wut hinunter, der verhörende Polizist räuspert sich ratlos und das Kleinkind brüllt. Um Fassung ringend, entgegnet Cuong scharf, dass er ausdrücklich verboten habe, ihn zu verfolgen. Das Problem sei außerdem gelöst, er würde die Strafe akzeptieren. Das Moped könne er am Tag unserer Abreise abholen, er habe das Geld schon bezahlt und eine Quittung bekommen. Gemeinsam brechen sie auf.

Abreise

Die Taschen sind gepackt. Selbst mein riesiger Koffer platzt wieder aus allen Nähten, obwohl die Hälfte der Neujahrsgeschenke ja längst übergeben wurden. Ich habe schlecht geschlafen und sitze allein und bedrückt am Frühstückstisch. Cuong ist noch einmal zur Polizei gefahren, dieses Mal mit der Schwägerin, um endlich das Moped abzuholen. Die Zeit ist knapp bemessen. Als er wiederkommt und seinen Kopf ärgerlich schüttelt, wissen alle, dass auch dieser Weg umsonst war. Die Polizei hat das Moped, entgegen aller Zusagen, noch nicht rausgegeben. Ich schleppe, um irgendetwas Sinnvolles in dieser unbehaglichen Situation zu unternehmen, die Koffer an die Eingangstür. Auch Cuongs Mutter schleppt eifrig weitere Plastiktüten gefüllt mit Obst und Lebensmitteln heran, die sie in unserem übervollen Gepäck zu verstauen sucht. Ich habe den Widerstand schon längst aufgegeben und lasse die gestopften Koffer für sich selber sprechen. Nur noch wenige Minuten bleiben. Tante elf und Cuong‘s Mutter stehen hilflos im Flur. Irgendwie ist am Ende so vieles schief gelaufen. Vor dem Haus wartet schon das Taxi, das uns zum Flughafen bringen wird. Die heiße Mittagssonne brennt unbarmherzig auf der dreckigen Straße, die mit dem Ende des Tết-Fest zur gewohnten Betriebsamkeit zurückgefunden hat. Ächzend fährt ein Lumpensammler an unserem Haus vorbei. Eine letzte Runde an Abschiedsgrüßen hebt an. Hung fasst mich plötzlich an meine Hand. Fast wollen mir Tränen der Rührung über die Wangen laufen, wenn ich daran denke, dass sie mich am ersten Tag keines Blickes gewürdigt hat und wie gefesselt vor ihrem Computer saß. „I will miss you!“ sagt sie leise, bevor sie im hinteren Teil des Hauses verschwindet. „I will miss you too!“ rufe ich ihr hinterher. Dann umarme ich Tante elf und mit ihr ein Stück der Trauer und Wut dieses Landes, das mich in seinen Bann geschlagen hat. Cuong ringt noch einmal mit seiner Mutter, die bereits wieder versucht, einen der Koffer zu öffnen, weil es immer noch Sachen gibt, die sie ihm mitgeben will. Während ein Hagel an Vorwürfen auf sie niederprasselt, nimmt mir sein Bruder meine Tragetasche ab und verstaut ohne ein Wort zu verlieren, weitere Mangos darin. Jetzt reiße auch ich mich los, bevor die Ballaste unsere Abreise noch völlig vereiteln. Wir springen ins Taxi und fahren im nächsten Augenblick ab. Cuong dreht sich nicht einmal mehr um. Auch seine Familie ist längst im Haus verschwunden und niemand erwartet mein Abschiedswinken, wie ich verwundert zur Kenntnis nehme und drehe mich wieder zurück. Schon nach wenigen Sekunden mischt sich Traurigkeit in die Erleichterung, den Abschied hinter uns gebracht zu haben. Ich greife nach Cuong’s Hand. Er sieht mich schweigend an. Der Wagen gewinnt auf der großen Ausfahrtstraße an Fahrt, bis uns plötzlich ein Moped überholt und sein Bruder heftig an die Fensterscheiben des rasenden Taxis klopft. Er hält mit der rechten Hand ein Buch über Buddha in den Händen, das Cuong Tante elf geschenkt hat. Es handelt von der Lehre, das Leiden zu überwinden. Der Taxifahrer fragt verunsichert, ob er stoppen soll. „Nein“ sagt Cuong, „das ist bloß ein Geschenk!“ und winkt seinem Bruder ärgerlich ab. Ich schweige. Der Motor des Taxis brummt und Sonnenstrahlen reflektieren sich in den dreckigen Wagenfenstern. Ich spüre, dass meine Seele das Haus noch nicht verlassen hat.

Im Zimmer der Ahnen löst sich langsam eine Lotosblühte aus der Knospe und wirbelt fallend eine kleine Wolke von Staubteilchen auf, die sich im Licht der gleißenden Nachmittagssonne brechen. Winzige Staubkörnchen tanzen schwerelos in der Luft, mit einer Leichtigkeit, als wollten sie niemals zu Boden sinken.