Donnerstag, 25. November 2010

Diamond Island (Geister 1)













Köpfe, aufgerissene Augen, um sich herumschlagende Körper, aneinander gepresst. So viele, zu viele für diesen engen Ort. Die Brücke zittert unter dem Ansturm der Massen. Schreie, Schweiß, Hitze, und dann versinken Arme, Beine, werden Menschen im Gewühl von Menschen verschlungen. Die Jüngsten, und die Schwächsten zuerst. Irgendwo Sirenen. Ich schnelle empor, wache auf. Es ist drei Uhr, Donnerstagmorgen. Im Traum noch wär ich fast erstickt!

Phnom Penh schläft seit zwei Tagen schlecht. Seine Bewohner wälzen sich in den Betten, von den Bildern des Grauens verfolgt. Und viele schlafen gar nicht. Im Zeitalter der Echtzeitkatastrophen glühen Telefone, jagen Bilder durchs Internet und Familien verbringen Stunden vor dem Fernseher, und können noch nicht begreifen, was sich eben erst zugetragen hat.

Zwei Tage später ist die Stadt wie betäubt. Sie ist beinahe so ruhig wie die Insel im Fluss, vor deren Absperrungen jetzt Soldaten stehen. Menschen schweigen still, beinahe betäubt, starren ins Leere. Und abends sind die Straßen so gut wie leer.

Phnom Penh ist im Augenblick eine der traurigsten Städte der Welt. Noch vor wenigen Tagen galt die Diamond Island als das ambitionierteste Stadtentwicklungsprojekt. Luxuswohnungen waren am Entstehen und Hochzeitspaläste. Zwei Brücken verbinden die Stadt mit der Insel der Diamanten im Mekong, deren klangvoller Name und deren exotischer Ruf noch am Montagabend Tausende auf die Insel gelockt haben.

Das Wasserfestival neigte sich seinem Ende entgegen und die meisten gingen glücklich nach Hause, und viele andere nicht. Das unter den ca. 350 Toten vor allem Menschen aus den Provinzen zu beklagen sind, liegt genau daran, dass diese ihre letzte Nacht in der Hauptstadt noch genießen wollten. Nicht wenige waren das erste Mal in Phnom Penh und staunten über die Wunder der Technik, zu denen eine in der Nacht beleuchtete Hängebrücke in den Augen der aus den kambodschanischen Dörfern Kommenden zählt. Doch zu viele waren gleichzeitig im Begriff, die Insel zu verlassen und drängten sich über die Brücke, die am Ende keinen Ausgang mehr bot.

Zwei Tage später sagt mir ein Mönch, diese Brücke sei nie gesegnet worden! Immer mehr Investoren ziehen Gebäude, Straßen, Brücken hoch, ohne auf die Traditionen des alten Kambodschas zu achten. Immer mehr Unternehmen ignorieren den tiefen Glauben, dass man die schicksalsbestimmenden Kräfte in Kambodscha erst gütig stimmen muss. Nie, sagt er, wurden buddhistische Mönche eingeladen, die Brücke zu segnen, doch jetzt sind die Mönche da, um die alten Bestattungszeremonien zu vollziehen. Sie sollen die Geister beschwören, den unheilvollen Ort zu verlassen. Die Seelen zu befriedigen, die so gewaltsam aus dem Leben getrieben wurden. Nicht zuletzt auch deshalb, weil den Sterbenden noch nach Aussagen einiger, Handys und Portemonnaies geklaut wurden und man die Polizei beobachtet haben will, die so lange so untätig blieb, schon kurze Zeit später Mopeds zu verschachern, deren Eigentümer gerade umgekommen sind oder noch im Hospital um ihr Leben gerungen haben.

Zwei Tage später sperren Eltern ihre Kinder abends ein, verbieten ihnen, zur Brücke zu gehen. Wenigstens sieben Tage lang. Nach buddhistischen Vorstellungen werden eine Woche lang die Gestorbenen betrauert und Lotusblumen, Kuchen und Bananen geopfert. Bananen kosten auf den Märkten der Stadt schon seit zwei Tagen den dreifachen Preis. Haben Händler kein Gewissen?

Kerzen brennen nicht nur vor dem Absperrgitter zur Insel hin, sondern fast vor jedem Haus. Die Nationalflagge hängt heute auf halbem Mast. In den Häusern ist man nur ungern allein. Stille ist unheimlich, lädt die herumirrenden Seelen ein, sich an den noch Lebenden zu nähren. Reden will jeder, sich entlasten, Trauer aussprechen und Angst, doch nicht zu laut. Viele flüstern, sie wollen nicht noch mehr Böses auf sich ziehen.

Noch zwei Tage später zählt die Stadt ihre Toten, die Zahlen schwanken, denn nicht wenige Kambodschaner haben noch in derselben Nacht ihre Schwerverwundeten abgeholt. Tote, so sagt man, soll man nicht durch die Gegend fahren. In den Hospitälern hängen Fotos der Gestorbenen aus, denn noch immer sind nicht alle identifiziert. Hotlines sind eingerichtet und Millionen SMS rasen durchs Land.

In den Pagoden werden Trauerfeiern abgehalten, fast alle Provinzen haben Menschen verloren, die Klage eilt durchs ganze Land.

In Zukunft, sagt der Mönch, wird man auf der Insel keine Hochzeiten mehr feiern und keine Partys. Der Ort ist verflucht. Diamond Island, so raunt er, ist für die Kambodschaner nunmehr eine Isle oft the Dead.

Fotos: Aus dem kambodschanischen Facebook, Spiegel-online und andere Quellen

Dienstag, 9. November 2010

Panha spricht über Pol Pot!


Draußen donnert es. Kambodscha feiert mit einem Feuerwerk den Jahrestag der Unabhängigkeit von Frankreich 1953. Er schaut kurz raus und erzählt dann weiter. Ruhig und gelassen, in bestem Englisch, eine Geschichte des Grauens. Es ist längst dunkel, nach 19.00 Uhr.

Ich weiß überhaupt nicht, wie wir darauf gekommen sind, zwei Menschen, die sich zum ersten Mal sehen, Panha, ein Kambodschaner, 21 Jahre alt, und ich, ein 44-jähriger Deutscher, der vom Alter her sein Vater sein könnte.

Das Wasserglas, das ich ihm hingestellt habe, berührt er kaum. Und meine Freundin, die kurz durch das Zimmer zu einer Jogaklasse ins Haus gegenüber eilt, begrüßt er höflich, formvollendet. Phnom Penh, Street 322 am 9. November 2010.

Meine Mutter, so sagt er, fragt ihn immer wieder: „Glaubst du wirklich daran, das Pol Pot so viele Menschen umgebracht hat?“ Und er entgegnet, ja, ich glaube dir das. Er lächelt dabei, sei es weil er ihre Frage abwegig findet oder weil er selbst davon irritiert ist, dass wir das dunkelste Kapitel der kambodschanischen Geschichte aufschlagen, obwohl wir uns überhaupt nicht kennen und auch in leichter Plauderei diesen frühen Abend hätten verbringen können.

„Meine Mutter ist 59 Jahre alt. Sie arbeitet immer noch als Lehrerin, Französischlehrerin. In meiner Familie gab und gibt es so viele Lehrer und ich selbst möchte auch nach meinem Studium Lehrer werden. Ich weiß gar nicht warum, aber irgendwie habe ich mir nie etwas anderes vorstellen können.

Mein Vater ist ein einfacher Mann, ein Reisbauer. Ich glaube, meine Eltern lieben sich, aber ich weiß, meine Mutter hat sich ihr Leben lang immer etwas anderes gewünscht. Es war in der Pol Pot Zeit (1975-1979), als meine Mutter, aus Phnom Penh in die Provinz Pursat vertrieben, meinen Vater heiraten musste. In der Zeit der Roten Khmer wurden Paare massenhaft verheiratet. Am Hochzeitstag meiner Eltern heirateten 100 Paare. Die meisten Menschen kannten sich gar nicht. Mein Vater kann nichts dafür. Aber meine Mutter war damals Mitte 20 und hatte an der besten Schule in Phnom Penh unterrichtet. Sie hatte sogar ein Jahr in Frankreich studiert. Bevor die Roten Khmer kamen und Phnom Penh eroberten war meine ganze Familie in Kambodscha sehr bekannt. Damals, vor Pol Pot, war mein Großvater Staatssekretär im Finanzministerium. Er hatte alles zu entscheiden, was Steuern anging. Wir hatten ein großes Haus hier in Phnom Penh. Eine Schwester meiner Mutter, muss eine ungeheuer schöne Frau gewesen sein. Sie war eine der ersten Stewardessen Kambodschas und ist mit der königlichen Fluggesellschaft durch die Welt gereist. Ich habe ein Foto von ihr gesehen, das Verwandte aus Paris mitgebracht haben. Sie sah meiner Mutter sehr ähnlich. Meine Mutter hatte viele Schwestern und Brüder, aber die sind – bis auf eine – alle umgekommen.

Es ist unglaublich, aber von 168 Familienangehörigen habe nur vier den Terror überlebt. 4 von 168. Alle anderen sind erbärmlich umgekommen, verhungert, verschollen oder wurden ermordet. Als meine Familie aus Phnom Penh vertrieben wurde, im April 1975, wurde meine Mutter der Provinz Pursat zugeteilt. Man sagte, die Amerikaner würden Phnom Penh bombardieren, und deswegen müsste die Stadt evakuiert werden, aber das war eine der vielen Lügen der Roten Khmer. Sie wollten die Menschen aus der Stadt einfach nur umbringen. Sie hassten die Menschen aus Phnom Penh. Meine Mutter hat nie länger über die Pol Pot Zeit gesprochen. Sie hat nur gesagt, dass die Realität viel schlimmer war, als in all den Büchern berichtet, die seit dem erschienen sind. Sie hat mir ein Buch gekauft, von einem Opfer der Pol Pot Zeit geschrieben, ich habe es durchgelesen und mehrfach geweint. Das alles ist meiner Familie auch passiert. Meine Mutter hat nur zwei Seiten gelesen, dann wurde ihr schlecht. Meine Mutter kann über diese Zeit nicht reden. Nur manches Mal, wenn sie weint, dann hat sie mir erzählt, woran sie gerade denkt. Vor einigen Tagen, da war es wieder soweit. Meine Mutter war schlecht drauf, wir haben uns alle Sorgen gemacht. Und dann hat sie plötzlich angefangen zu weinen und ist ins Schlafzimmer gerannt. Ich bin hinterher gegangen und habe sie umarmt. Und gefragt, woran sie gedacht hat, ich wusste, an Pol Pot. Und so war es auch. Sie hat an ihre kleine Schwester gedacht, die Stewardess, die zwei Monate vor der Befreiung von Pol Pot an Unterernährung gestorben ist. Und wirklich, wir haben es jetzt Anfang November und der Jahrestag des Todes meiner Tante hatte sich an diesem Tag gejährt. Meine Mutter kann das einfach nicht vergessen. Sie hat mich gefragt, warum ihre geliebte Schwester nicht hätte noch zwei Monate warten können, nachdem sie doch damals schon mehr als drei Jahre das Regime überlebt hatte. Aber sie konnte nicht warten. Dann haben wir beide geweint. Wer weiß, was aus meiner Tante noch geworden wäre. Und wie viele Cousins und Cousinen ich jetzt hätte. Sie war damals so jung.

Wenn wir sonntags immer zum Zentralmarkt einkaufen gehen, dann machen wir das normalerweise mit meiner Tante, die wie meine Mutter überlebt hat. Ich und mein älterer Bruder und meine Cousine und mein Cousin. Diese sind für mich wie Geschwister, wir leben auch alle in einem Haus zusammen. Die Verkäufer auf dem Markt sagen immer, wie glücklich sich meine Tante schätzen könne, dass ihre vier Kinder mit ihrer Mutter einkaufen gehen. Wir schmunzeln alle, weil es ja eigentlich nicht richtig ist aber doch irgendwie stimmt. Wir sind wie eine Familie. Meine Tante ist vor einem Jahr nach Belgien ausgewandert, weil sie sich von ihrem Mann scheiden gelassen hat. Sie hatte bereits einen neuen kennengelernt, der aus Belgien kommt. Ihr alter Mann hat sie immer betrogen und nicht gearbeitet. Meine Tante hat bei der französischen Botschaft eine wichtige Stellung gehabt und das Geld verdient. Jetzt hat sie in Belgien keine Arbeit und Kambodscha fehlt ihr sehr. Aber es geht ihr gut. Seitdem gehen wir alle vier mit meiner Mutter sonntags auf den Markt. Und die Verkäufer haben nicht schlecht geschaut, die ersten Male und gefragt, wer denn nun diese Frau sei und wo unsere Mutter geblieben ist. Und wir haben gesagt, das ist unsere Mutter. Wir haben zwei. Das klingt so, als hätten wir zu viel, zwei Mütter zum Beispiel, dabei haben wir so viel verloren.

Meine Mutter hat mir erzählt, vor vielen Jahren schon, dass sie nie geglaubt hätte, dass neben ihr überhaupt noch einer ihrer Familie den Pol Pot Terror überlebt haben könnte. Damals, ein Jahr oder zwei Jahre, nach dem Pol Pot vertrieben wurde, da arbeitete meine Mutter wieder als Lehrerin in Phnom Penh, 1981 war das.

Die Vietnamesen waren damals in der Stadt und wollten öffentlich über das Grauen des Terrors reden und haben sich an die wenigen Lehrer gewandt, die Pol Pot nicht umgebracht hatte. Meine Mutter. Sie wurde bedrängt, über ihre Erfahrungen zu reden und andere wissen zu lassen, wie die Hölle unter Pol Pot wirklich aussah, aus der Perspektive eines Opfers. Meine Mutter hat lange behauptet, sie könne sich an nichts mehr erinnern. Doch dann hat sie dem Druck nachgegeben und ist zu einer Massenveranstaltung gegangen und stand am Mikrophon. Und hat angefangen zu reden. Nach zwei Minuten aber ist sie in Ohnmacht gefallen. Das war es dann. Sie wurde dann nicht mehr gezwungen, über die vier Jahre zu sprechen. Man sagte nur, ihre Familie würde zu denen gehören, die es am Schlimmsten erwischt hat.

Kurze Zeit später, so sagte meine Mutter, ist eine Frau in ihre Schule gekommen und hat auf sie im Schulhof gewartet, bis der Unterricht zu Ende war. Sie näherte sich dann meiner Mutter und hat sich als deren nächst ältere Schwester vorgestellt. Sie stand direkt vor ihr, minutenlang und meine Mutter hat sie angesehen, und hat gesagt, meine Schwester wurde vor vier Jahren umgebracht. Sie lebt nicht mehr. Die Frau hat dann angefangen zu weinen und ist fortgerannt. Zwei Tage später ist sie wieder zur Schule meiner Mutter gekommen und dann hat meine Mutter, dann haben sie sich erkannt.

Es ist so, dass diese Schwester, meine Tante, wirklich überlebt hat und eben jetzt vor einem Jahr nach Belgien ausgewandert ist. Aber meine Mutter konnte das damals einfach nicht glauben, denn noch im Pol Pot Lager, da wurde ihre Schwester zum Tode verurteilt. Sie hatte einer mit dem Tode ringenden schwangeren Frau helfen wollen. Diese war am verhungern und meine Tante hatte kurzentschlossen einfach einen Bananenbaum abgeschlagen um aus der Staude eine stärkende Suppe zu kochen. Sie hat sich überhaupt nicht umgesehen, ob sie beobachtet wird oder nicht, denn in diesen Zwangskommunen gab es so viele Spitzel und Aufpasser wie Bananenbäume und ist prompt erwischt worden. Meine Mutter sah noch, wie sie abgeführt wurde und wusste, das ist ihr Ende… Und hat nie wieder etwas von ihr gehört, genauso wenig wie von all den anderen Familienangehörigen. Und dann steht meine Tante plötzlich vor ihr, verändert, kaum wiederzukennen und sagt: „Ich habe auch überlebt!“

Seitdem haben meine Tante und meine Mutter immer zusammen gelebt, bis vor einem Jahr. Und seitdem sind wir vier Geschwister. Eine Familie! Meine Mutter fragt sich bis heute, wieso alles so gekommen ist. Wieso von 168 Menschen nur vier überlebt haben und wieso unsere Familie heute so klein ist und im Grunde verarmt und wir noch vor 40 Jahren eine große, sehr einflussreiche und von allen bewunderte Familie waren. Wieso?“


Foto: Ausschnitt von einer Wand in einer alten verlassenen Villa in Phnom Penh.