Dienstag, 14. Dezember 2010

Khmer Witch Project (Geister 2)









Diese Schule ist unheimlich! Dieses Haus ist verflucht! Meine kambodschanischen Kollegen, die sich am frühen Morgen ängstlich auf dem Sofa der NGO zusammen hocken, flüstern bedrückt. In der Nacht ist der Sicherheitsmann der Schule, der draußen im Slum von Samrong Mancheay gearbeitet hat, plötzlich gestorben. Dies ist der zweite Todesfall innerhalb eines Jahres. Er war Anfang 60, arm wie die meisten da draußen und er war krank.

Die kleine Waisenschule, 15 km außerhalb von Phnom Penh, liegt in einem erbärmlichen Viertel, das vor mehr als acht Jahren entstanden ist, nach dem die Regierung ein innerstädtisches Quartier zwangsweise geräumt hatte. Seine Bewohner warten seitdem auf eine Zukunft, die für sie nicht vorgesehen ist und überleben in Blechhütten, vor denen sich Dreck und Abfall türmt.

Jetzt meldet sich niemand mehr zum Dienst. Auch, als das Gehalt für die nächsten Nächte verdoppelt wird, so berichtet eine Kollegin, bleibt die Suche nach einem Ersatz ein erfolgloses Unterfangen. Man sagt, in der Nacht gingen Geister um. Gibt es denn eine andere Erklärung für zwei Sterbefälle innerhalb von einem Jahr?

Vogelscheuchen, Totenbäume, Opfergaben, Schreine und verfluchte Orte. In der kambodschanischen Kultur haben sich viele animistische Vorstellungen erhalten. Das Wort "Animismus" leitet sich von dem lateinischen Wort "Anima" ab, welches "Seele" oder "Atem" bedeutet. Animismus ist die Lehre von der Beseeltheit der Dinge. Haben Dinge, Orte, Pflanzen Seelen?

Zu den beeindrucktesten Filmszenen über den kambodschanischen Animismus gehört für mich jene, in der ein übler amerikanischer Geschäftsmann im Film „City of Ghosts“ an einen alten heiligen Baum pinkelt, nur um Sekunden später von einem auffliegenden Schwarm im Baum schlafender Fledermäuse angegriffen zu werden. Die Reaktion auf die Schändung des Heiligen erfolgt unmittelbar, der Amerikaner stürzt erschreckt in eine schlammige Pfütze, fehlendem Respekt folgt eine Landung im Dreck.

Dieser Glaube ist uralt und möglicherweise entstanden, um den Unterscheid zwischen einem Gegenstand im Leben – einem Lebewesen – und demselben Gegenstand im Tode und auch das Auftreten von lebenden und toten Menschen in Träumen und Halluzinationen zu erklären. Animismus, Geist oder Energie existiert unabhängig vom dem Etwas, ob tot oder lebendig. Es ist da und bemächtigt sich der Sinne…

Die Welt im Animismus ist geprägt von Göttern, guten und bösen Geistern und Zauberei. Die Basis des südostasiatischen Geisterglaubens liegt in der Vorstellung, dass die Welt der Geister als mächtiger erlebt wird, als die der sterblichen Menschen.

Es ist eine seltene Ausnahme einem Kambodschaner zu begegnen, der keine Angst vor Geistern (Kmauch) hat, oder nicht guten Geistern (Bohpumm) Respekt entgegen bringt. Kmauch und Bohpumm sind für Kambodschaner feste Bestandteile des Lebens. Sie sind in Familien gegenwärtig, ebenso in der sozialen Gemeinschaft und ihrer Geschichte, die besonders in Kambodscha eine der Gewalt und des Mordens ist. Aber auch in den Reisfeldern, Wäldern, Flüssen und Bäumen wohnen gute und böse Geister. Eigentlich sind sie überall. Von verstorbenen Personen nimmt man an, dass ihre Seelen manchmal zurückkommen, um ihre Verwandten zu besuchen. Geister gehören zur unsichtbaren Welt aber haben dennoch ihren Platz im Leben der Gemeinschaft.

Sie repräsentieren die sozialen Regeln und Werte der Gemeinschaft die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Die Menschen, besonders in den Dörfern, glauben, dass diese sozialen Regeln und Werte auf die Vorfahren zurückgehen, wobei die Vorfahren jetzt selbst Geister sind. Missachtet man diese überlieferten Regeln aus Unachtsamkeit oder überschreitet man sie gar absichtlich, so werten das die Menschen als eine direkt gegen die Geister gerichtete Handlung die man damit verletzt, beleidigt.

Kmauch, die bösen Geister sind naturgemäß übelwollend und können den Menschen Schaden zufügen. Die meisten dieser übel wollenden Kmauch wohnen in der Natur und sie wandern in der Nacht. Das nächtliche Anschlagen der Hunde wird so oft als eine Reaktion auf die Seelen der Verstorbenen verstanden, die noch nicht zur Ruhe gekommen sind. Man sagt, Hunde können Geister sehen. Wenn es in einer Dorfgemeinschaft Katastrophen, Krankheitsfälle, Konflikte oder Probleme gibt, dann organisieren die Dorfleute eine Zeremonie, (die meist von einem Mönch geleitet wird) um den bösen Geist zu verjagen. Das schädliche Wirken dieser Geister wird im Auftreten plötzlicher Krankheitsfälle gesehen, und zwar weil die Vorstellung existiert, dass die Kmauch Nahrung benötigen und sie sich diese im Körper vom Menschen suchen, sich vom lebenden Menschen nähren.

Als vor wenigen Wochen auf der Diamond Island hunderte von Menschen zu Tode getrampelt wurden, wurde der Himmel über Phnom Penh im spirituellen Sinne völlig schwarz. Im Internet machten Kurzfilme die Runde, von, über der Brücke kreisenden, dunklen Vögeln, die, es wird sich niemand wundern, von vielen Bewohnern Phnom Penhs als Seelen der Umgekommenen gesehen wurden. Eine kambodschanische Freundin überredete ihre deutsche Mitbewohnerin, wenigstens für eine Woche die Belüftungsschachte verhängen zu dürfen, damit kein Geist in die Wohnung dringen könne. Und meine Haushälterin Lee bat mich, die gesamte Woche nach der Massenpanik zu Hause zu Mittag zu essen, weil sie Angst hatte, selbst am heller lichten Tag allein im Haus zu sein. Und wirklich, als ich mittags kurz nach Zwölf heimkehrte, wurde ich nicht vom Geist erschlagen, sondern von der ohrenbetäubenden Musik aus dem Fernseher, deren Zweck es war, eben genau jene Geister abzuschrecken, die über Phnom Penh kreisten.

Animismus oder Geisterglaube ist in Kambodscha seit den vor-buddhistischen Zeiten bis heute weit verbreitet. Es gibt eine Vielzahl von unterschiedlichsten Geistern zu berücksichtigen. Damit ihre Zahl nicht weiter steigt, müssen alle Verstorbenen eingeäschert und auf gar keinen Fall begraben werden. Beim Einäschern verlässt die Seele den Körper und wartet auf ihre nächste Reinkarnation. Bei der Beerdigung dagegen bleibt die Seele als Geist auf der Erde und wird danach trachten jedermann zu schädigen. Vielleicht haben sich die Friedhöfe in der westlichen Kultur deswegen etwas Unheimliches bewahrt. Und steigt nicht auch in unserer Kultur mit dem Vampir eine vergleichbare Schauergestalt aus dunklen Grüften?

Wenn es gute und böse Geister gibt, dann muss man möglichst eine gute Beziehung zu ihnen halten. Eltern von Kleinkindern klagen lautstark darüber, wie hässlich ihre Söhne und Töchter seien, nur um zu vermeiden, dass deren Schönheit den hungrigen Geistern auffallen könnte. Von den Menschen angebotene Nahrungsopfergaben sind eine Alternative für die Geister, so dass sie ihre Nahrung nicht mehr durch das Eindringen in den Körper von Menschen suchen müssen. Menschliche Anstrengung ist auch nötig, um die Geister wohlgesonnen zu stimmen oder in guter Stimmung zu halten und um sicherzugehen, dass die Geister nicht zornig oder vernachlässigt werden. Es existieren vielfältige Mittel und Methoden, um böse Geister abzuwehren. Zudem schützen Hausschreine, Buddhafiguren, Riten, Amulette, laute Musik oder andere, freundlich gesinnte Geister.

Andere Gruppen nehmen durch Medien oder Wahrsager Kontakt mit den Geistern auf. Wahrsagen geschieht z.B. durch Astrologie (China), Glück/Unglück erfragen (Volksbuddhismus) oder durch bestimmte Rituale wie das Reinigen mit magischem Wasser. Vor einigen Monaten wurde eine ältere Frau gegenüber meinem Haus stundenlang von einem Mönch mit einer, in heiliges Wasser getauchten Rute ausgepeitscht, weil sie von bösen Geistern besessen war. Sie stöhnte mit jedem Schlag auf, dicht gefolgt von einem, im Befehlston ausgestoßenen Ruf des Mönches, der sich am besten mit „geh raus!“ übersetzen lässt. Da die Frau längst auf der Straße saß, kann sich das „geh raus“ wohl nur einem, in ihrem Körper hausendem Geist gegolten haben.

Über das ganze Land sind spirit houses (Hausschreine, Miniaturtempel) verteilt. Sie stehen vor Hauseingängen, am Wegesrand, auf Reisfeldern, vor Schluchten oder im Dschungel. Regelmäßig opfern Kambodschaner den Geistern, denken an ihre Ahnen und versuchen so, Unheil abzuwenden.

Der weitverbreitete Geisterglaube lässt die Menschen auch neu erworbenes technisches Gerät vor dem ersten Gebrauch segnen, damit keine Unfälle passieren können. Die thailändische Fluggesellschaft zum Beispiel lässt jedes neu in Betrieb genommene Flugzeug vor dem ersten Einsatz aussegnen. Auch der Privatmann wird sein Auto auf diese Weise schützen. Die Menschen sind zwar oft skeptisch bezüglich der Wirkung des Segens, doch der Besitzer bemüht sich spätestens dann darum, nachdem das Auto in einem Unfall verwickelt war. So gesehen erklären sich auch nicht wenige Kambodschaner das Sterben auf der Brücke nach Diamond Island damit, dass die Investoren vergessen haben, die Brücke auszusegnen.

In Vietnam leuchten in grünen Reisfeldern weiße Grabmäler, weil man glaubt, die Ahnen würden den Besitz der Familie vor fremden Mächten schützen. Und vor der verlassenen Königsvilla in Kep (Kambodscha) hängt eine Vogelscheuche im Totenbaum, um Eindringlinge abzuwehren, obwohl der König schon vor Jahrzehnten das Anwesen aufgegeben hat. Vielleicht, so mögen sich die derzeitigen, illegalen Bewohner denken, hilft die Vogelscheuche ja auch gegen seine unwahrscheinliche Wiederkehr.

Während des chinesischen Neujahrfestes, das auch in Kambodscha aufgrund der großen chinesischen Minorität gefeiert wird, erzittert die Luft von Trommelschlägen und Gongs, um den bösen Geist “Na A” vertreiben, ein ohrenbetäubendes Unterfangen, das nur noch durch Millionen Kracher überboten wird. Innige Gebete werden an die Ahnen gerichtet und zu ihrer Verehrung werden Papieropfer vor dem Haus verbrannt, kleine Autos, Krawatten, Blümchenkleider, Zigaretten, Bier, Schlafanzüge, modernes Küchengerät aus buntem Papier und vor allem Geld! Den Ahnen soll es an nichts mangeln. Nur niemanden vergessen, nur keinen Geist unbeachtet, oder gar gierig zurücklassen.

Zurückgelassen, vergessen aber liegt die kleine Waisenschule noch immer vor den Toren der Stadt. Noch immer hat sich kein Sicherheitsmann gefunden, der den Mut hat, nachts an einem, offensichtlich verfluchten Ort Wache zu schieben. Die Direktion hat beschlossen, bis auf weiteres keine wertvollen Dinge über Nacht in der Schule zu belassen. Dann gibt es sie also doch, denke ich, Kambodschaner, die sich trauen, nachts in eine verhexte Schule einzubrechen. Oder waren es dann am Ende doch mal wieder nur die verflixten Geister?


Fotos: Scarecrow in front of the Royal Villa in Kep, abandoned kitchen at the Royal Villa, wooden guesthouse near Chlong (Mekong), deserted bungalow of Khmer Rouge Leader Tak Mok in Anlong Vieng, spirit house in Mondulkiri, Neak Daa with eight faces (good spirit) in Anlong Vieng province, chinese citizen burn paper during Chinese New Year on Street 63, Phnom Penh