Freitag, 10. Februar 2012

Con Dao – Die Hölle und das Paradies





Unruhig Schlafen

Irgendetwas zieht mich langsam aus dem Schlaf. Cuong neben mir atmet leise. Erste Empfindungen tauchen auf, schemenhaft wie die Umrisse des Zimmers. Ich drehe mich schlafsuchend um, nur um noch deutlicher zu spüren, wie wach ich schon bin. Wie spät ist es? In diesem Raum ohne Uhren, in dem sich, und das mag dem vagen Zustand des Erwachens geschuldet sein, auch das Gefühl für die konkrete Zeit verloren hat. In dieser stickigen Enge des Zimmers, das wie die meisten Schlafräume in den Tropen über kein Fenster nach außen verfügt, sondern nur über eins, das sich zu einem der anderen Räume hin öffnet. Das Haus selbst ist alt und wurde erst vor kurzem von Quings Familie, einer Freundin von Cuong, mit der Absicht gekauft, dem lärmenden Moloch Saigon von Zeit zu Zeit zu entkommen, um sich auf dem paradiesisch schönen Con Dao zu erholen. Noch stehen Farbeimer im Haus, die Matratzen der Gästebetten sind bis kurz vor unserem Eintreffen in Plastik eingeschweißt. Wir sind die ersten Besucher. Weitere werden kommen, denn Quings Familie hat in einer der traumhaft schönen und noch unberührten Buchten des Eilandes ein riesiges Gelände erworben und beabsichtigt, dort ein luxuriöses Ressort zu errichten. Ein Millionenvorhaben, das nur jemanden umsetzen kann, der aus den wohlhabendsten und einflussreichsten Familien des neuen Vietnams stammt. Und der daran glaubt, dass Con Dao, dessen Name bis heute jeden älteren Vietnamesen mit Grausen aufhorchen lässt und Erinnerungen wachruft, die man für ewig ins Reich des Vergessens sperren möchte, dass diese „Insel des Teufels“ eine himmlische Zukunft haben wird. Schon wurde ein armes, älteres Ehepaar aus Nordvietnam angeworben, das uns die Schlüssel des Hauses am ersten Tag übergibt. Sie roden das Grundstück, beaufsichtigen die ersten Baumaßnahmen und legen Gemüsegärten an. Wir versprechen ihnen, sie an einem der kommenden Tage auf dem Gelände des zukünftigen Ressorts zu besuchen, auch weil Cuong sich ein Bild vom geplanten Bauvorhaben machen will.

Die Insel des Teufels

Abgeschieden, auf dieser Insel am Ende der Welt, errichtet hier die französische Kolonialmacht mit Hilfe ihrer südvietnamesischen Handlanger ein Gefängnis für die politischen Gegner des Kolonialregimes. 1861 entsteht das erste Zuchthaus für politische Gefangene. Im Laufe der Jahre weitere. Zur Zeit des südvietnamesischen Regimes 1954-1975 vegetieren Zehntausende von Häftlingen in über 200 Staatsgefängnissen in allen Provinzen verteilt. Viele von ihnen sind heute im Laufe der Geschichte und im Schatten der weltweit wahrgenommenen Grausamkeit der Indochinakriege vergessen. Lediglich die großen Gefängnisse Chí Hòa in Saigon, Tân Hiệp in Biên Hoà, das Frauengefängnis Thủ Đức in Saigon, das Konzentrationslager für Kriegsgefangene auf der Insel Phú Quốc und das berüchtigte Konzentrationslager auf Con Dao, im Volksmund auch Côn Sơn ("Teufelsinsel") genannt, haben sich in das kollektive Gedächtnis Vietnams eingegraben. Gegen diesen dunklen Ruf laufen jetzt Baumaschinen heiß, werden Dschungel gerodet, ziehen Boutiquehotels in alte Kolonialgebäude, spucken Druckerpressen Hochglanzprospekte eines neuen Con Dao aus, das dabei ist, sich aufzuschwingen, wie ein Phönix aus der Asche von Folter, Tod und Verderben. Doch noch heulen böse Dämonen mit im grellen Konzert der neuen Karaoke Bars. Noch berichten die wenigen Touristen hier von einem gelegentlich unheimlichen Gefühl, auf einer Insel des Todes Urlaub zu machen, auch wenn die unbeschreiblichen Vorzüge einer nahezu unberührten Natur, weiße Sandstrände, Korallenriffe, Meeresschildkröten und seltener Dschungeltiere viele sagen lassen, sie würden noch einmal wieder kommen. Die Folterhöllen von Con Dao erinnern mit einer geradezu hypnotisierenden Macht an die Schrecken der Vergangenheit der einstigen Kolonie Indochine française und stehen anderen menschlichen Vernichtungsorten wie Pol Pots Staatsgefängnis S21 Tuel Sleng in Phnom Penh oder den deutschen Konzentrationslagern in nichts nach. Hier finden im Zeitraum von 113 Jahren, die das Gefängnis besteht, mehr als 20.000 Menschen einen grausamen Tod. Die berüchtigten Tiger Cages (Tigerzellen), die Isolationskammern, Wachtürme und Stacheldraht auf hohen Gefängnismauern, hinter denen schweigend der unberührte tropische Dschungel auf bis zu 500 Metern hohe Berge kriecht, stehen im grausamen Kontrast zu den gelbleuchtenden Kolonialvillen in Hanoi, Saigon oder dem Mekong-Delta aus derselben Epoche und den im französischen Stil gebauten Caféhäusern, in denen einst eine buntgemischte Elite aus Kolonialbeamten, Offizieren, Geschäftsleuten, Schriftstellern und betuchten Touristen genüsslich ihren Kaffe schlürfte. 113 Jahre lang werden auf der verwunschen schönen Inselgruppe Vietnamesen, die für eine befreite Heimat kämpften, brutal ermordet - erst von den französischen Kolonialmächten, später vom amerikanischen und südvietnamesischen Militär.

Besuch um Mitternacht

Jetzt springt die Klimaanlage an. Schwach leuchtet vom Display die Temperaturangabe, 24 Grad. Zögernd richte ich mich auf. Langsam tauchen die kahlen hellen Wände vor mir auf und links die hölzerne Tür. Barfuß schleiche ich durch das Zimmer, um in die Küche zu gehen. Ich will Cuong nicht stören, die letzten Tage auf der Insel waren bewegend und anstrengend zu gleich. Kurze Strandaufenthalte wechselten sich ab mit bedrückenden Gefängnisbesichtigungen, Wanderungen durch den Dschungel mit der Gastfreundschaft und Gelassenheit der Inselbewohner, die wir in den Restaurants erlebt haben. Und Cuong übersetzte immer wieder, die in steifem klaren Vietnamesisch gehalten Vorträge der Fremdenführer in den Gefängnissen genauso wie die zufälligen Episoden aus dem Alltagsleben der heutigen Inselbewohner. Es sei gut, wenn die Wahrheit in dein Buch kommt, sagt er mir. Heute früh noch sitzen wir in einem kleinen Restaurant an der Hauptstraße von Con Dao. Die Eigentümerin serviert uns freundlich Bún Rieu, eine typische vietnamesische Reisnudelsuppe mit Schrimpspaste. Hühner scharen in den Abfällen unter dreckigen, hellblauen Plastiktischen, die die Gäste vor uns, getreu der Gewohnheiten in Südostasien, einfach unter den Tisch haben fallen lassen. Und als die Wirtin unsere leeren Teller abräumt, erspäht sie mit einem kurzen Blick ihre ca. acht Jahre alte Tochter, die dösend die spielenden Hunde beobachtet. „Ach, hab ich dir nicht gesagt, du sollst deine Hausaufgaben machen? Oh warte nur, heute bringe ich dich noch um!“ Die Tochter reagiert gelassen und wendet sich wieder ihren Schularbeiten zu, nur um kurze Zeit später einen plötzlichen ausbrechenden Hahnenkampf zu verfolgen, der auf dem Nachbargrundstück entbrannt ist.

Auf dem langen Flur, der sich durch Quins Haus zieht, gewöhnen sich meine Augen an den Dämmerzustand. Ich lasse das Licht aus. Flüchtig werfe ich einen kurzen Blick in den vorderen Teil des Gebäudes, in dem ein geräumiges Wohnzimmer und ein überdimensionierter Flachbildfernseher darauf warten, zukünftige Besucher zu unterhalten. Der Vorhof endet direkt an der Straße Nguyen Dúc Thuan, die sich durch die gesamte Ortschaft zieht. Doch irgendetwas ist anders als sonst, etwas irritiert. Jemand ist da, eine halbe Stunde vor Mitternacht. Ich stehle mich nach vorn, um besser sehen zu können. Niemand kann von draußen ins Haus blicken, solange das Licht aus bleibt. Mein Unbehagen wächst, je besser ich sehen kann. Meine erste Ahnung hat mich nicht getäuscht. Drei Männer stehen vor dem Haus. Ihre Mopeds reflektieren das Licht einer seitlich stehenden Straßenlampe. Einer hält sich an dem hüfthohen schmiedeeisernen Eingangstor fest, ein klares Zeichen, das sie nicht irgendwohin wollen sondern zu uns. Bevor ich Cuong wecke, will ich sichergehen, dass ich nicht einem Trugbild erliege, nicht die Bilder des Tages ihr Unwesen treiben. Ich pirsche mich jetzt fast bis an die gläserne Eingangstür. Es ist die vietnamesische Polizei, die draußen wartet. Es sind Männer in dunkelgrünen Uniformen. Gestern haben wir sie längere Zeit beobachten können, wie sie am frühen Nachmittag würdevoll eine Zeremonie zum Gedenken an Vietnams Nationalheldin Võ Thị Sáu vollzogen. Wir besuchten einen kleinen Pavillon, in dem die Lebensgeschichte des jungen Mädchens vorgestellt wird, das beispielhaft für viele Namenlose ihr Leben opferte für die Freiheit der Menschen von Vietnam. Ich schleiche zurück ins Innere des Hauses, „Cuong?“, „Hallo, da ist jemand vor der Tür!“ Leise flüstere ich: „Ich glaube, es ist die Polizei…! Cuong federt aus dem Bett, verschlafen und erschrocken zugleich. Schnell wirft er sich ein Hemd über und geht schlaftrunken an die Eingangstür. Er läuft, ohne sich noch einmal umzudrehen, den an der Toreinfahrt wartenden Polizisten entgegen. Ich halte mich verborgen im Inneren des Hauses auf, nicht wissend, dass genau meine Anwesenheit in diesem Haus die lokale Polizei auf den Plan gerufen hat.

Märtyrer, Helden und Heilige

Võ Thị Sáu wird 1933 als sechstes Kind in der Provinz Dat Do, in einem kleinen Dorf mit dem Namen Bá Ria geboren. Ihre Eltern ahnen nicht, dass sie ihre Tochter schon mit 19 Jahren verlieren werden, zu vorherbestimmt ist das Schicksal einer armen Familie aus Vietnam. Ihre Mutter arbeitet als Händlerin auf einem lokalen Markt und ihr Vater transportiert Reisende mit einem von ihm selbstgezogenen Wagen über die staubig trockenen Sandwege der am südchinesischen Meer gelegenen Provinz. Ein mühsames Leben. Fernab von jeder Einmischung in die politisch unruhige Lage, wäre da nicht ein älterer Bruder, zu dem die Heranwachsende eine leidenschaftliche Beziehung unterhält. Dieser Bruder lebt im Untergrund und kämpft mit anderen gegen die Fremdherrschaft der Franzosen, die ein Puppenregime in Saigon an der Macht halten. Verfolgt von der südvietnamesischen Polizei, die schon in den 30er Jahren mit einer ungeheuren Brutalität gegen Widerstandskämpfer vorgeht, verbringt der Vietcong nur wenige Tage im Jahr im Elternhaus. Doch diese wenigen Begegnungen mit ihrem älteren Bruder müssen für die junge Sáu eine große Bedeutung haben. Durch ihren Bruder kommt sie in Kontakt mit den Hoffnungen auf ein befreites Vietnam. Ein Leben in Freiheit und Gerechtigkeit, Ideale, für die ihr Bruder kämpft und sein Leben aufs Spiel setzt. Mit 14 Jahren tritt auch sie der Untergrundbewegung zu Befreiung Vietnams von der französischen Kolonialherrschaft bei und unterstützt die Vietkong als Spionin, kundschaftet aus, was für die Widerstandskämpfer von Interesse ist. Doch schon bald lernt sie, dass Worte allein die Fremdherrschaft nicht abschütteln werden, dass es anderer Mittel bedarf. Mit 16 Jahren unternimmt sie erste bewaffnete Aktionen gegen die französischen Kolonialherren und ihre südvietnamesischen Stellvertreter. Am 14. Juli 1948 wirft sie eine Bombe auf hohe lokale Beamter, Vertreter der lokalen französischen Puppenregierung, die den Markt von Dat Dat Do besuchen. Drei Beamte sterben sofort, der Provinzgouverneur überlebt schwerverletzt. Noch auf der Flucht wird die 16jährige von Soldaten gefasst und nach qualvollen Verhören später dem Richter vorgeführt. 1949 wird Sáu zum Tode verurteilt. Die bürgerliche Rechtspraxis in Frankreich verbietet es jedoch, Minderjährige zu exekutieren. Das gilt auch für die Kolonien. So wird sie als erster weiblicher Häftling auf die berüchtigte Gefängnisinsel Côn Dao verbracht, damit hier ihre Henker auf ihre Volljährigkeit warten. Gerade 19jährig wird Võ Thị Sáu im Gefängnis von Côn Dao am 23. Januar 1952 erschossen, zusammen mit zwei anderen Insassen.
Heute kennt in Vietnam jedes Kind ihren Namen. Überall im Land wird Sáu als Heldin, als Heilige verehrt. Und das nicht erst seit dem 2. August 1993, als Sáu offiziell zur Heldin der bewaffneten Streitkräfte des vietnamesischen Volkes erklärt wird. Schon gleich nach ihrer Hinrichtung unternehmen andere Häftlinge des Foltergefängnisses den lebensbedrohlichen Versuch, an die Ermordete zu erinnern. Sie meißeln heimlich einen Gedenkstein, der später von Aufsehern entdeckt und zerstört wird. Folter und Qualen brechen aber nicht den unbeugsamen Willen von Menschen, für die Freiheit zu kämpfen und sogar ihr Leben zu opfern. Weitere Gedenk-und Grabsteine entstehen, werden entdeckt, die Ausführenden bestraft und umgebracht. In den frühen 60er Jahren kommt ein Gefängnisdirektor auf die Idee, dem unheimlichen Treiben dadurch ein Ende zu setzten, in dem er selbst einen aus feinem Marmor anfertigen Grabstein für Sáu aufstellen lässt. Und tatsächlich, diese posthume Anerkennung des besonderen Status von Võ Thị Sáu beendet den symbolischen Widerstand, das heimliche Steinmetzen. Das vereinigte kommunistische Vietnam beginnt nach 1975 an ganz anderen Büsten und Monumenten für seine Helden zu meißeln. Heute sind viele Straßen und Plätze sind nach Võ Thị Sáu benannt und Schulen tragen ihren Namen. Auf dem großen Nationalfriedhof direkt neben den Gefängnissen, am Fuße des Dschungels, liegt das Grab von Võ Thị Sáu. Der aus schwarzem Marmor gebauten Monumentalgrabstelle der Heldin stehen zwei kleine Grabstelen vor. Die linke Stele wurde noch von den Insassen des Gefängnisses gemeißelt, die rechte geht auf den einsichtigen Gefängnisdirektor zurück. Diese Stele ist ein Stein des Anstoßes im paradoxen Sinn. Mit ihm wurde, entgegen seiner Bestimmung, der Mythos von Võ Thị Sáu zum ersten Mal offiziell anerkannt und die junge Märtyrerin von ihren Henkern zu unsterblichen Heiligen erklärt.

Nachts wandern nicht nur Seelen

Ich höre die Männer reden, draußen am Tor, der ältere Polizist, der sich die ganze Zeit am Torgitter festgehalten hat, wendet sich plötzlich ab. Die Motoren der Mopeds heulen auf und nach wenigen Worten noch, fahren die drei Polizisten weiter. Cuong kommt zurück ins Haus und bemerkt lakonisch. „Du darfst hier nicht wohnen, weil du ein Ausländer bist! Jetzt müssen wir morgen früh um acht Uhr aufs Revier. Ich weiß nicht, was uns da erwartet!“ Er wirkt sehr ärgerlich, vielleicht ist es jetzt, mitten in der Nacht, auch kein guter Zeitraum, einen Plan zu schmieden. In der Dunkelheit des Zimmers liegen wir uns gegenüber. Sind seine Augen noch auf? Wollen sie mich noch fragen, was wir jetzt machen sollen? Zwei dunkle Höhlen. Seine Unruhe teilt sich mir nur durch seinen Atem mit. Dann, hebt er tief Luft: „Das ist genau das, was ich an Vietnam hasse. Diese Macht der Polizei, die sich willkürlich in das Leben der Menschen einmischt, um Notlagen zu schaffen und um Menschen dann abhängig zu machen und auszubeuten. Weiß ich, was die morgen wollen. Geld? Auf jeden Fall ziehen wir morgen in ein Hotel um, dazu gibt es sowieso keine Alternative!“ Ich entgegne, dass wir uns abstimmen sollten, damit wir nicht morgen auf dem Revier in noch größere Schwierigkeiten kommen. Schon versuche ich mich zu erinnern, wo ich meinen deutschen Pass hingelegt habe. „Zu blöde, dass wir hier kein Internet haben. Sonst würde ich die Telefonnummer der deutschen Botschaft googlen“, flüstere ich. „Die kann dir auch nicht weiterhelfen, das macht man hier mit Geld in Vietnam und das ist das einzige, was die wollen! Und das ist genau das, was ich auf gar keinen Fall mitmache, diese Bestechungskultur. Wenn wir etwas falsch gemacht haben, dann sollen sie uns bestrafen und auch zur Kasse bitten, aber nur gegen eine ordentliche Quittung. Das habe ich denen am Tor schon gesagt, dass wir nur gegen einen offiziellen Zahlungsbeleg zahlen werden.“ Ich bewundere Cuongs Korrektheit und seinen Mut, den schwierigen Weg in der Auseinandersetzung mit der Polizei zu gehen und nicht den landesüblichen. „Mich erinnert das so an die später 80er und frühen 90er Jahre. Mein Vater ist früh gestorben, ich kann mich an ihn nicht erinnern. Meine Mutter nahm sich einen neuen Mann. Obwohl sie noch nicht verheiratet waren, hat dieser im Haus bei uns mit gewohnt, beide waren ja längst erwachsen und meine Mutter Witwe. Und als hätte die Polizei bei all dem Unrecht, den Überfällen und Schlägereien, die jeden Tag in Vietnam passieren, nicht genug zu tun. Nein, da kommen sie nachts in die Privathäuser der ordentlichen Bürger und kontrollieren, wer mit wem im Bett liegt. Solange ich denken kann, ist es Vietnamesen durch die Ordnungsbehörden verboten, woanders als zu Hause zu schlafen. Mein Stiefvater ist beinahe jede Woche einmal über die Dächer geflohen, weil die Polizei nachts an der schweren Eingangstüre Sturm klingelte, die meine Mutter dann umständlich, um Zeit zu gewinnen, entriegelte. Diese Hausdurchsuchungen gingen Jahre lang so weiter, nur weil er nicht polizeilich bei uns angemeldet war. Diese Anmeldung hätte er sowie nicht bekommen oder nur gegen jede Menge Bestechungsgeld, Geld, das wir damals nicht hatten. Und wie man leider sagen muss, in Vietnam hat sich diesbezüglich nichts geändert. Ich spiele da nicht mehr mit! Ich will, dass sich das endlich ändert, es ist höchste Zeit!“ Er dreht sich müde um und döst kurze Zeit später ein. Ich überlege, ob wir nicht besser den Wecker stellen sollten und stupse ihn noch einmal sanft an. „Nein“ murmelt er zerknirscht, „wir gehen aufs Revier, wenn wir ausgeschlafen haben. Wir werden eh ziemlich sicher morgen früh wach, dafür wird schon irgendjemand sorgen…“
Jetzt krähen die Hähne. Es ist vier Uhr. Ich muss eingeschlafen sein. In unruhigen Träumen verarbeite ich die Erlebnisse der letzten Tage. Vor zwei Tagen noch besuchten wird das kleine Museum zu Ehren von Võ Thị Sáu am Eingang des Dorfes. Umgeben von einer gut gepflegten, dreieckigen Parkanlage ist dieses Museum alles andere als ein verstaubter Ort. In den Vitrinen glitzern Lippenstifte, Ohrringe und Armreifen, neben Parfüm und kleine Medaillen, die vietnamesische Pilger der Verehrten in letzter Zeit geopfert haben. Rechts und links vom Altar hängen Dutzende von gelben, blauen und roten Ao Dai`s, dem farbenfroh eleganten, klassischen vietnamesischen Hosenanzug.
Und gestern nahmen wir, abseits stehend, an einer Zeremonie anlässlich ihres Geburtstages teil, die aufgrund des nahenden Tet-Festes um einige Tage vorgezogen wurde. Hunderte von festliche im Ao Dai gekleidete Frauen schreiten würdevoll durch den kleinen Park, um im Inneren des templeartigen Museums der Ermordeten kostbare Geschenke darzubringen. Beobachtet von hohen vietnamesischen Armeangehörigen, an seitlichen Tischen sitzend und in Uniformen, die nur schlecht ihre aufgedunsenen Bäuche verdecken, marschiert eine Garde von jungen Soldaten durch den Park. Trommeln wirbeln auf und die Soldaten grüßen mit einem kurzen würdevollen Tanz die Seele der für Vietnam Gestorbenen.
Noch am gleichen Tag reiche ich einem Vietnamesen auf dem Nationalfriedhof, der vor Võ Thị Sáu´s Grab zusammen mit einer Gruppe von zehn anderen ein knusprig gebratenes Spannferkel opfert, ein Erfrischungstuch, um seine vom Fett triefenden Hände zu reinigen. Diese Geste hilft, den misstrauischen Ersteindruck zu überwinden, den wir in den Gesichtern bei unserem Erscheinen finden, und durch eine ungezwungene Konversation über Rituale, Wünsche und Opfergaben zu ersetzen. Cuong übersetzt. Die Familie hier sei von der Insel. Einmal im Jahr gingen sie zum Grab von Võ Thị Sáu, so auch heute anlässlich ihres Geburtstages. Sie verbringen hier einige Stunden, beten, zünden Räucherkerzen an, legen Mangos, lilafarbene Drachenfrüchte, Bananen, Orangen oder Guaven auf die Marmorplatte, verneigen sich und bringen heimlich ihre Wünsche und Hoffnungen vor, über die man, um die Aussicht auf Erfüllung nicht zu gefährden, mit niemanden reden darf. Und es ist auch das Grabmal von Sáu, das im Konfliktfall, von Streitenden aufgesucht wird. Man sagt, kein Vietnamese würde sich trauen, vor ihrem Grabmal Lügen und Falschaussagen zu machen. Denn noch immer, so glaubt hier jeder auf der Insel, noch immer wandern die Seelen der Ermordeten, steigen nachts aus ihren Grüften auf und bestimmen, Segen oder Verderben bringend, die Schicksale der Menschen. Niemand wagt deshalb, die Macht der Toten zu provozieren.

Frankreichs Waterloo

Mit Schmach reagiert die politische Elite der Grand Nation auf die Niederlage in der Schlacht um ihre als uneinnehmbar geltende Bergfestung Điện Biên Phủ im Norden Vietnams, die nach einem jahrelangen Guerillakampf durch die Việt Minh unter General Võ Nguyên Giáp am 7. Mai 1954 eingenommen wird. Dieser Sieg führt zum Ende der französischen Kolonialherrschaft in Indochina. Was folgt, ist von der bis dahin herrschenden Kolonialmacht weder gewünscht, noch geplant: Waffenstillstand und die Genfer Konferenz am 21. Juli 1954, auf der die Teilung Vietnams entlang des 17. Breitengrades beschlossen wird. Das Land zerreißt, mit der Folge, dass sich die (sozialistische) Demokratische Republik Vietnam im Norden und die (bürgerliche) Republik Vietnam im Süden von nun an als unversöhnliche Brüder gegenüberstehen. Auch wird Frankreich verpflichtet, bis zum Mai 1955 alle Truppen aus Indochina abzuziehen. Die düsteren Gefängnisse von Con Dao aber leeren sich in diesen Tagen nicht. Denn die Regierung des Katholikenführers Diệm in Südvietnam, der durch einen Putsch an die Macht kommt, ist unpopulär. Studenten und Buddhisten protestierten gegen die Regierungspolitik. Wer aber gegen die Willkür der neuen Obrigkeit angeht, landet in den Gefängnissen von Con Dao. Nach Frankreich sehen sich die USA veranlasst, ihre Unterstützung für Südvietnam zu verstärken, um den Sturz des Regimes zu verhindern. Auf der geopolitischen Landkarte des Kalten Krieges ist Südostasien heiß umkämpft. Bis 1960 versinkt Südvietnam immer mehr im Sumpf von Korruption und Chaos. Am 1. November 1963 wird Diệm ermordet. Mehrere kurzlebige Militärregierungen folgen und bleiben nicht lange an der Macht, bis 1967 der von USA protegierte Präsident Nguyễn Văn Thiệu eine neue, stabile Regierung bildet.

"Es genügt, mit dem Tod zu tanzen"

Diese Nacht ist kurz. Schon krähen die Hähne auf dem Nachbargrundstück und machen wahr, was Cuong vorhersagte. Wir werden rechtzeitig wach. Vielleicht aber sind wir nicht einmal richtig eingeschlafen. Meine Gedanken schweifen zurück in die grausame Vergangenheit dieses Landes, dessen Ordnungsbehörden uns in wenigen Stunden schon erwarten. Ich warte auf die Dämmerung, das Licht, den neuen Tag. Mir kommt eine weitere Figur in den Sinn, die in ihrer Resolutheit eine Gegenspielerin von Võ Thị Sáu gewesen sein muss, nur dass diese ihre Landesgenossin um fünf Jahrzehnte überlebte. Stand Sáu mit ihrem Leben ein für die Befreiung ihrer Heimat von Unterdrückung und Fremdherrschaft, beeinflusst Madame Nhu, Schwägerin des Präsidenten Diệm, mit einer demagogischen Macht die brutale Politik des südvietnamesischen Regimes. Elegant gekleidet, 160 groß, machtbesessen und erzkatholisch. Eine Evita Perón, die niemand im Präsidentenpalast von Saigon zur Feindin haben will, zu schmerzhaft sind ihre bissigen Kommentare, zu tödlich ihre heimtückischen Intrigen, die ihrem schönen Gesicht eine grausame Note verleihen. Ihr rastloser Ehrgeiz verrät ihre Anmaßung, von Gott dazu ausersehen zu sein, dem sinnlichen Land mit aller Härte die richtige Moral einzuimpfen und die mehrheitlich buddhistischen Menschen auf ein erzkatholisches Leben einzuschwören, dass sogar den gesinnungstreuesten Kardinälen in Rom größtes Unbehagen bereitet. Vielleicht stachelt sie auch die alte Sage der beiden Schwestern Trung an, die im ersten Jahrhundert die chinesischen Besatzer mit Hilfe eines Frauenheeres vertrieben, bevor sie später der erdrückenden Übermacht erlagen und sich im Hát Fluss das Leben nahmen. Berufen dazu, knapp zweitausend Jahre später, mit aller List und Gewalt, den Staat vor Kommunisten und Buddhisten zu retten. Sie behauptet, die Führer des Buddhismus würden mit den kommunistischen Việtcong zusammenarbeiten, denen schon Nordvietnam zum Opfer wurde. Es ist der 11. Juni 1963, der das Fass zum überlaufen bringt. Quang Duc, ein buddhistischer Mönch fährt nach Saigon, um in der brodelnden Unruhe der Millionenstadt ein Fanal zu setzen. Er übergießt seinen Körper mit Benzin und verbrennt sich im Zentrum der Stadt, vor dem Platz der Nationalversammlung, direkt zwischen den Hotels Continental und Caravelle. Und wie die tödlichen Flamen seine Robe fressen, rasen die Wellen der Erschütterung um die Welt. Vernichtender konnte das Ausmaß der Polizeiwillkür des Diem-Regimes nicht in den Blick der Weltöffentlichkeit gelangen. Sein Opfertod lässt Amerikas Vietnampolitik fast einstürzen, das schon mit der Bekämpfung des Kommunismus an seine Grenzen stieß. Wer wollte sich da noch mit den Buddhisten anlegen, die 70% der vietnamesischen Bevölkerung bilden? Nicht so Madame Thi Nhu, die in aller Öffentlichkeit höhnt: "Hier ist doch nichts weiter geschehen, als dass sich ein Mönch geröstet hat, und das nicht einmal mit landeseigenen Mitteln, sondern mit eingeführtem Benzin." (New York Times). Die "Buddhistenkrise" führt zu dem bis dahin schwersten politischen Beben des südvietnamesischen Staates und trägt letztendlich dazu bei, dass sich Amerika von Diệm abzuwenden beginnt. Die schwarzen Listen der Madame Nhu aber werden länger und länger. Jetzt geht es nicht nur Kommunisten und Buddhisten an den Kragen, sondern auch dem ältesten Gewerbe der Welt an die Beine. Nhu verbietet die Prostitution und rekrutiert die arbeitslos Gewordenen für ihre Frauenbataillone. Frisch uniformiert erhalten diese, qua Geschlecht, sofort einen Offiziersstatus, der bis dahin nur Männern zustand. Nhu belegt das sinnesfreudige Land auch mit einem Tanzverbot und kommentiert lakonisch: "Es genügt, wenn wir mit dem Tod tanzen".
Als ihr Ehemann Nhu und Präsident Diệm nach einem coup d'état unter der Führung von General Dương Văn Minh und mit dem stillen Einverständnis der USA am 2. November 1963 in Saigon erschossen werden, verbringt Nhu gerade mit ihrer 18jährigen Tochter einen Urlaub in Beverly Hills, Kalifornien. Öffentlich beschuldigt sie die USA des Verrats und sagt ein Desaster des amerikanischen Engagements in Vietnam voraus, was, so die Ironie der Geschichte, wenige Jahre später eintrifft. Thi Nhu stirbt am Ostersonntag, den 24. April 2011 in Rom, nachdem sie fast 50 Jahre im Exil in Frankreich verbracht hat. Ihre Memoiren sind bis heute nicht veröffentlicht. Nur ihr blumiger Mädchenname „wunderbarer Frühling“, ihre im Kontrast dazu stehende Lebensgeschichte und eine Fülle ihrer Bemerkungen sind weltweit dokumentiert. So auch dieses Zitat: "Ich kenne keine Niederlage!"
Die Dämmerung setzt ein. Ich stehe auf, zerschlagen und unruhig, wie der Tag, der unberechenbar vor mir liegt. Ein launisches Tier, zum Spiel bereit, in schnurrender Erwartung von Liebkosungen und auf der Lauer, den Unvorsichtigen hinterrücks im nächsten Moment anzugreifen.

Im Käfig der Tiger

Der freundliche Verkäufer des kleinen Ladens vis-à-vis, in dem ich gestern noch Kaffee kaufte, trägt jetzt eine Polizeiuniform. Er nickt kurz, bevor er sich auf sein Moped schwingt und knatternd davon fährt. Wird er auf dem Polizeirevier auf uns warten? Hat er uns gar angeschwärzt, die krummen Gesetze dieses Landes kennend? Seine Frau nimmt mir heute, statt seiner, die Geldscheine entgegen, die ich unkonzentriert heraussuche, um die gezuckerte Kondensvollmilch zu bezahlen. Will uns jeder noch so kleine Gang auf der Hauptinsel von Con Dao in jene Zeiten zurück schleudern, in denen die freilebende Bevölkerung ausschließlich aus Aufsehern, Militär und deren Familien bestand? Am Hafendamm, bei dem an jedem Abend blaue Fischerbote ablegen, um gemütlich aufs offene Meer zu tuckern, weist ein Erinnerungsstein darauf hin, dass sich bei seiner Errichtung 914 Zwangsarbeiter zu Tode schufteten. Und oben auf den Bergen, am Eingang des Naturschutzparkes, auf dem Weg hin zum Ong Dung Strand, greift der tropische Dschungel nach einer steinernen Brücke, die versunken am linken Wegesrand liegt. An diesem Bau, so informiert ein weiterer Gedenkstein, verloren 356 Häftlinge ihr Leben. Sie wird auch „Brücke des ungesunden Klimas“ genannt, weil die ausgemergelten Häftlinge hier den giftigen Tücken des Dschungels ausgesetzt waren, dessen Schlangen, Spinnen und Moskitos den brutalen Aufsehern die Arbeit abgenommen haben, von den Schwächsten der Zwangsarbeiter einen Blutzoll zu verlangen. Aufseher und Bewacher, deren Broterwerb allein darin lag, die hier Gefangenen vollends von ihrer Aussichtslosigkeit zu überzeugen. Die Foltermethoden der Bewacher und ihre Torturen sind heute plastisch nachgestellt. Lebensgroße Figuren aus Stein mit hasserfüllten Gesichtern versinnbildlichen in den verschiedenen Gefängnisanlagen lebensecht das Werk des Teufels, dem jahrzehntelang auf dieser Insel kein Einhalt geboten wurde. Und auch ihre Opfer liegen am Boden kauernd, mit leeren Gesichtern, die schweigend davon reden wollen, dass der Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit den Menschen physisch vernichtet, nicht aber ihre Seelen. Eine Eingesperrte etwa, schneidet sich ihren eigenen Unterbauch auf und wirft dem Aufseher einen Teil ihres Darms ins Gesicht, um gegen die bestialischen Behandlungsmethoden zu protestieren, bevor sie kurze Zeit später an ihren eigenen Verletzungen stirbt. In einer anderen Zelle prügeln vier Aufseher einen Gefesselten tot. Die plastischen Figuren, ihre Unbeugsamkeit angesichts des Todes, bilden ein Echo, das neben dem schimmligen Geruch und den vom Grauen geschwärzten Böden und Wänden jeder Besichtigung der Gefängnisse schaurig nachhallt.

Noch im Restaurant, Stunden später, dringt das Erlebte des Tages in unser Gespräch, auch wenn der Kellner neben uns darauf wartet, endlich unsere Bestellung aufzunehmen. Wie können wir einfach so weiteressen, einen unbeschwerten Urlaub machen, wenn die Geschichte des Ortes uns unaufhörlich ins Bewusstsein dringt?
Als sich die Franzosen aus Vietnam zurückziehen tauchen die unabhängig gewordenen Länder Laos, Kambodscha und Vietnam in eine unsichere politische Ära der Selbstständigkeit ein, nur um schon wenige Jahre später von einem der furchtbarsten Kriege der Weltgeschichte erfasst zu werden, dem Vietnamkrieg (1964-1973), der in Vietnam auch der amerikanische Krieg genannt wird. Con Dao bleibt das Hauptgefängnis für politische Gefangene. Auch die Wächter ändern sich nicht, nur ihre Hintermänner. US-Berater und später dann amerikanisches Militär ersetzen die Franzosen, wobei die Gefängnisanlagen „modernisiert“ werden.
Selbst als 1973 im Pariser Vertrag das Ende des Krieges besiegelt wird und die USA sich verpflichten, ihre Truppen im selben Jahr vollständig abzuziehen, scheint sich auf der Insel des Teufels nichts zu ändern. Einer kleinen Gruppe von US-Amerikanern gelingt es, Informationen über die Militärgefängnisse in der amerikanischen Öffentlichkeit zu präsentieren, die landesweit entsetzt reagiert. Nie zu vor hatte man von Tigerkäfigen gehört, in denen bis zu 10 Insassen auf kleinstem Raum eingesperrt sind, um von oben, durch in die Decke gelassene Eisengitter von den Aufsehern schikaniert zu werden. Der Skandal schlägt Wellen und die Regierung verspricht, die Zustände zu verbessern. Kurze Zeit später wird das „Gefängnis nach amerikanischem Stil“ eröffnet, dessen weiße Baracken humaner wirken als die Verließe aus der französischen Zeit. Auch werden auf dem Gelände eine Kantine und ein kleine Krankenstation errichtet. Ein großzüger, rasenbewachsener Innenhof suggeriert einen Auslauf für die Inhaftierten, in dessen Mitte ein alter Baum Schatten vor der tropischen Hitze spendet. Es gehört aber zu der perfiden psychologischen Strategie der Amerikaner, dass die geräumigeren 48 Zellen komplett überbelegt werden, dass der einzige Gegenstand in der Zelle ein hölzerner Bottich ist, in den bis zu 10 Insassen gezwungen werden, ihre Bedürfnisse zu entrichten und der nicht jeden Tag, auch nicht jeden zweiten, sondern nach Willkür der Bewacher unregelmäßig geleert wird. Manchmal nur einmal in der Woche, so erklärt die Fremdenführerin. Zwar können die Gefangenen auf die Dusche im grünen Innenhof blicken, doch selbst die sporadische Reinigung ist Teil einer ausgeklügelten psychologischen Strategie. Vor einem Wasserloch reihen sich die Geschwächten auf und ziehen mit einem Eimer, dessen Boden halb herausgeschlagen ist, klägliche Pfützen hinauf, um sich, so schnell es geht, den Wasserrest über den Körper zu gießen. Dabei werden die Gefangenen fortwährend von den Wärtern mit Peitschen auf nackter Haut geschlagen, weshalb der Akt auch „Schlagduschen“ genannt wird. Ohnehin lässt man mehr als 400 Insassen nur 30 Minuten Zeit, sich an der einzigen Dusche anzustellen. Die Schwächsten unter ihnen, so berichtet die Führerin, brechen schon unter den Schlägen zusammen. Wer ihnen helfen will, wird zusätzlich fürchterlichen Schlägen und Tritten ausgesetzt. Die unhygienischen Zustände, die unverpflegten Wunden und das verdorbene Essen führen zu schlimmsten Erkrankungen, die nicht auf der Krankenstation behandelt werden. Schwarz sind die Füße der Häftlinge und ihre Waden bis hoch zu den Knien. Ihre Haut verfault bei lebendigem Leibe.

Sechs Sinne

„Das wird richtig teuer Jungs!“ Der ältere Polizist, der letzte Nacht noch vor unserem Tor stand, klopft Cuong scherzend auf die Schulter, bevor ihn der Diensthabende rausgeschickt. Es ist kurz nach acht. Als wir kurz vor acht Uhr auf dem Revier eintrafen, sitzen die uniformierten Polizisten noch beim Frühstück und rauchen Zigaretten. Jetzt verhört uns ein junger Polizist, keine 25 Jahre alt. Er redet viel, um Strenge bemüht, mit der er seine Jugend zu verstecken sucht oder das Gefühl von Peinlichkeit. Da ich das Gespräch nicht verstehe, beobachte ich die Situation genau, versuche aus der Mimik den Ausgang der Geschichte zu lesen. Cuong nickt, antwortet und signalisiert die Bereitschaft, für den Fehler einzustehen. Nach 15 Minuten stehen alle plötzlich auf. Der Wächter, der kurz nach uns in Revier gekommen ist, weil auch er zum Verhör eingeladen ist, lächelt mich an. Ich verstehe nichts. Wir überqueren den Hof auf dem Weg zu unserem Moped. „Können wir jetzt gehen?“ frage ich Cuong. „Ja“ sagt dieser. „Wir haben Glück gehabt und sind lediglich mit einer Verwarnung davongekommen. Doch der ältere Polizist wollte Geld, deswegen wurde er rausgeschickt!“ Erleichtert versprechen wir dem Wächter, ihn am Nachmittag noch zu besuchen und fahren los. Der Umzug ins Hotel erfolgt ohne Aufregung. Irgendwie sind wir beide erleichtert, dem alten Haus zu entkommen, und dem Lebensmittelladen vis-a-vis, dessen Verkäufer uns vielleicht angeschwärzt hat. Als der Nachmittag anbricht, fahren wir los und halten auf dem Weg zum Wächter am neuen Luxusressort „Six Senses“. „Lass uns doch hier einen Kaffee trinken, wir haben doch noch Zeit!“ sage ich zu Cuong. Misstrauisch führt uns der Portier zur Hotelbar, dem einzigen Ort, der für ein Publikum zugänglich ist, das nicht 1.700 US Dollar für eine Übernachtung übrig hat. Der Blick in das gekühlte Kuchenbüfett, in dem sich raffinierte Törtchen zieren, verschlägt uns den Appetit. Französische Mandelcremes und Himbeerbizets zeigen, wohin die Zukunft der Insel unter weißem Einfluss heute zieht. Unten, am hoteleigenen Strand döst ein junges weißes Paar, die Arme engumschlungen. Sie sind aus Amerika, höre ich die Barkeeperin sagen, die uns einen Kaffee brüht. Vorreiter der neuen Generation. Im November letzten Jahres steigen Brad Pit und Angelina Jolie hier ab. Beide mieten, für sich und ihre Entourage, vier Bungalows. Sie zeigen sich schockiert, als sie - wie wir - die Gefängnisse der Insel besuchen. Auch Amerika hat sich in den letzten 40 Jahren verändert. Statt Kriegsberater und Waffenhändler erholen sich heute Betuchte auf der Insel des Teufels von den Strapazen des Reichtums, Edeltouristen aus einem Land, das sich wie kein zweites in diesen Breitengraden den Magen verdorben hat. Ziehen sich zurück in abgeschirmte Anlagen, die keine Gitter mehr vor den Fenstern haben. Werden bewirtet von einheimischen Angestellten, deren Väter noch ganz andere Uniformen getragen haben.
3,5 Millionen Vietnamesen sterben im Vietnamkrieg, während der Kriegshandlungen oder danach, an den Folgen der eingesetzten chemischen Kampfstoffe wie dem Pestizid „Agent Orange“, zu deren Herstellung u.a. auch die deutsche Firma Boehringer Ingelheim Zwischenprodukte liefert. Als das Regime in Saigon am 30. April 1975 vor der Übermacht der Vietcong kapituliert, sticht ein Dampfer in See, um die Gefangenen von Con Dao zurück ins Leben zu holen. Viele von ihnen sind Mitglieder der FNL, der „Nationalen Front für die Befreiung Südvietnams“. Widerstandskämpfer, die wider alle Erwartungen die Hölle überlebt haben. Wie Helden werden die Geschundenen in Saigon begrüßt. Sie legen ihre stinkenden, schwarzen Gefängnistrachten ab, wie später die Stadt ihren Namen. Ho Chi Minh City heißt Saigon heute; doch wer genauer hinhört, dem wird auffallen, dass dieser Name fast ausnahmslos von Nordvietnamesen benutzt wird. Im Süden bleibt Saigon Saigon. Auch andere Hoffnungen platzen. Bis zur Wiedervereinigung übernimmt eine provisorische revolutionäre Regierung die Macht im Süden, danach schwingt sich das im Norden liegende Hanoi zur Hauptstadt des geeinten Landes auf. Und Hanoi regiert. Hi Chi Minh verspricht, das Land fair zu vereinen und gewinnt, mit der Aussicht auf Versöhnung, die Herzen von Millionen, auch aus dem Süden. Doch nach seinem Tod erfahren die Menschen südlich des 17. Breitengrades, das auch dieses Versprechen nicht eingehalten wird. Tief sitzt das Misstrauen, das nach einer langen Feindschaft bleibt. Alle Posten und hohe Ämter in Saigon gehen an die Vietcong. Die Mitglieder der Nationalen Front, deren Guerillakrieg Tausenden das Leben kostete, pochen vergeblich an die Türen der sozialistischen Rathäuser und Verwaltungen. Selbst die Gefangenen von Con Dao, hochverehrt und ruhmbekränzt, gehen leer aus. Zwar sitzen sie, wie Quins Vater, in dessen Haus wir wohnen, zu Gedenktagen und Erinnerungsfeiern in der ersten Reihe, doch die Stühle der Macht sind längst besetzt. Drei Jahre verbringt der heute zu viel Geld und Einfluss gekommene Widerstandskämpfer im Gefängnis auf Con Dao. Er überlebt. Und auch er wurde von den
einstigen Kampfgefährten und Gesinnungsbrüder aus dem Norden enttäuscht. So steigt er, zu Höherem berufen, in die Wirtschaft ein, investiert, kauft und verkauft. Er macht das, was die Stadt am Meer am besten kann, seine Heimatstadt Saigon. Hoch ragen heute die Bürotürme des ersten Bezirks in den Himmel. Hier stehen die höchsten Häuser in ganz Vietnam und das Geschäftsklima ist so rosig wie die Morgendämmerung, die nach jeder Nacht im Osten aufzieht. Kräne, Pläne, Boulevards - die Zukunft der boomenden Stadt hat schon jetzt begonnen. Wirtschaftlich hat Saigon seine stolze Schwester Hanoi schon längst im Griff. Geld wird in Vietnam im Süden gemacht, auch wenn offiziell die Wirtschaft noch immer verstaatlicht ist. Doch es sind genau die Nischen und Lücken in einer staatlich gelenkten Ökonomie, in denen sich der Mangel an wichtigen Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfs mit dem südvietnamesischen Unternehmergeist erfolgreich verbunden haben. Vielleicht wäre Vietnam sonst, ohne seine Geschäftsleute und Händler, überhaupt nicht so weit gekommen. Selbst die Politiker aus dem Norden sind längst in das Geschäftsleben Saigons eingestiegen. Sie halten die Hand auf, denn es gibt hier viel zu verdienen, besichtigen in schicken Anzügen die Bauvorhaben und lassen sich vor den vielen neuen Glaspalästen fotografieren.
Das Ressort, das Quins Vater plant, raunt mir Cuong zu, als wir schließlich das Gelände an einer abgeschiedenen Bucht betreten, soll noch größer, noch edler werden als „Six Senses“. Noch ahnt der dichte Dschungel nichts von den Villen, denen er schon bald weichen muss. Zwei weiße Störche verharren unbeweglich in einem sumpfigen Pfuhl, vom dichten Schilf getarnt. Satt leuchtet die rote Erde, die in naher Zukunft von grauen Granitplatten bedeckt wird, die sich bereits an der Landstraße stapeln.
Die Frau des Wächters schleppt einen Wassereimer in den kleinen Gemüsegarten, in dem träge leuchtend gelbe Kürbisse liegen. Ihr Mann berichtet uns stolz, dass Quins Vater ihnen erlaubt hat, solange das Ressort noch nicht gebaut ist, ein wenig Landwirtschaft zu betreiben. Jetzt können sie sich selbst versorgen, anders als im Norden von Vietnam, den sie mit neuer Hoffnung vor einem Jahr verlassen haben. Er freut sich über unseren spontanen Besuch, den wir auch nutzen, um uns für die Schwierigkeiten zu entschuldigen, die die Polizei ihm und Quins Familie bereitet hat. Er antwortet verschämt, dass nicht ihm der Dank gilt. Denn als wir das Revier um acht Uhr betreten haben, hatte Quins Vater die Polizei bereits angerufen und um Nachsicht gebeten. Quins Vater ist auf Con Dao ein mächtiger Mann. Er hat die besten Verbindungen und selbst die Polizei traut es sich nicht, sich mit den Mächtigen anzulegen. Das wir jetzt nicht länger in Quins Haus, sondern in einem Hotel wohnen, sei ein gutes Ende. In Vietnam, so sagt er, will man niemanden stören.

Die Störche werden unruhig. Mit einem Ruck fliegen beide auf und ziehen gleichförmig über das Meer, wie ein altes Paar, das nichts ohne den anderen unternimmt. Unfähig, die Zukunft zu lesen, die schon beginnt, verwirrt durch unsere Anwesenheit. Sie ahnen noch nichts von den Gästen, die nach uns kommen werden. Von blauen Salzwasserpools und dem Ende der sumpfigen Teiche. Fliegen über das Meer zur Insel Bay Canh, deren Felsen blaugrün leuchten und deren helle Sandstrände noch unberührt in der Nachmittagssonne flimmern.