Mittwoch, 25. Februar 2009

Vom tiefen Ekel der Existenz








Unter einem kleinen verkrüppelten Baum hat der alte Mann seinen Stand aufgebaut. Der Sonnenschirm ist dreckig, vollgesogen mit all den Abgasen der 63. Straße, auf der sich der abenteuerliche Verkehr vom nördlichen Zentrum Phnom Penhs zum Süden drängelt. Nur zwei Gehminuten von meinem Haus entfernt, wartet der Friseur auf Kunden, von Benzinwolken und drückender Hitze umhüllt.

Ich nehme auf dem Frisierstuhl Platz. Im Spiegel schlingert ein Moped auf der Straße zur Zentralmarkthalle vorbei, an dem 100 tödlich erschöpfte Hühner hängen, dem Schlachthaus entgegen, der Endstation.

Langsam fährt sein Kamm durch mein Haar. Er hat nur einen. Schwarz, schäbig. Wie viele kambodschanische Köpfe hat er schon gekämmt? „Ja, ja, an den Seiten kurz, oben länger!“ Es ist bei mir eigentlich immer das Gleiche, wie in Deutschland. Er fängt zu schneiden an. Und ich frage mich beklommen, mir wird’s ganz flau, gibt es hier Läuse? Schweiß rinnt unter meinem Hemd. Es ist - genaugenommen - eklig!


Wenn man in eine andere Kultur eintaucht, schlagen die Sinne Alarm!

Reizvoll ist das Neue, Unbekannte, und eklig seine Schatten.


Die kambodschanische Küche verführt den Gourmet nicht nur mit frischer Minze, Zitronengrass, Koriander und Ingwer, nein, sie schockiert auch den abendländischen Gaumen mit Maden, Heuschrecken, Fröschen, Schlangen, Hunden, Spinnen oder angebrüteten Enteneiern.


UND DA KÖNNEN SIE NOCH SO VIEL CHILLI RANMACHEN! ICH ESSE DAS NICHT!

Dachte ich jedenfalls!


In meinem Lieblingsrestaurant bekomme ich mit schöner Regelmäßigkeit ein glibberiges Reisdessert vorgesetzt, das mich an Sago oder Sperma erinnert. Eklig!

Anderntags bin ich mit deutschen Freunden in einem neuen Trendrestaurant, in dem Straßenkinder wirklich köstlich kochen. Und es musste irgendwie Jens sein, der die Spinnen entdeckte, nicht AUF sonder IN der Speisekarte. Nicht wirklich eine offene Frage dann, ob wir die jetzt auch noch bestellen sollen. Nein, eigentlich schon beschlossen. Und klar, höre ich mich sagen, ich koste mal! Alle lachen. Wenig später kracht das haarige Spinnenbein zwischen meinen Zähnen. Und ich denke nur: eklig! (Foto)


Am Ufer des Mekong überwinde ich mich zu einem angebrüteten Entenei, das aromatisch mit einer vergorenen Fischsoße serviert wird. Es ist einer dieser seltenen Sonntagsausflüge, und mein Freund Kim schlürft mir gemütlich was vor. Ja, ich weiß, eine Spezialität. Das Eigelb, durch das sich bereits rote Blutfäden ziehen, krieg ich ja noch runter. Nein aber, das Küken, das bleibt bei mir auf dem Teller liegen! ES IST SO EKLIG! (Foto)


Meine Kollegen knacken in der Workshop-Pause auf der Terrasse im ersten Stock braune Tamarinden. Die gingerähnlichen Baumfrüchte haben unter der Schale ein festes, gelbes oder braunes Fruchtfleisch, deren süßsauren Geschmack die Kambodschaner lieben. Nur hat mir keiner vorher erzählt, dass, wenn aus der Nuss ein brauner Brei läuft, diese einfach schon hinüber ist! Hilfe, war das modrig; war das eklig!


Abends komme ich hungrig nach Hause und schaue kurz in die Pfanne auf dem Herd. Und mich schaut eine graue, zerkochte Hühnerkralle an! Ach, das meinte meine Haushälterin Li mit „Heute gibt es eine kräftige Hühnersuppe mit Reis zum Mittag!“ Da wurde ja ein ganzes Huhn zerhackt! Hier in Kambodscha knabbern die Leute lustvoll an den Krallen, in Deutschland würde man nur erstarrt die Hände spreizen. Oh nein, wie eklig! (Foto)


Zwei Tage später klebt ein Gecko an der Küchenwand. Nicht so ein kleiner, der sonntags ab und zu tödlich erschrocken aus meinem Toaster springt, wenn ich die Heizhebel runter drücke, um mir ein Brot zu tosten. Allein die Vorstellung, dass er es einmal nicht mehr schaffen könnte, seinem Domizil zu entfliehen und stattdessen qualvoll eingeklemmt zwischen meinen Frühstücksbroten röstet, oh wie eklig!

Nein, so ein Steven Spielberg Monster Gecko, 30 cm lang, grün, grau und mit roten Punkten! So ganz im freien auf den weißen Kacheln meiner Küche, so ohne Glaswand, nur er und ich: Oh nein, es ist schon wieder eklig! (Foto)

Ach und all der Schweiß, das viele Schwitzen. Meine Lieblingskollegin warnt mich barfuß davor, in ihr Büro zukommen. Ihr sei so heiß, und ihr Schweiß schmiert auf den Fließen unter ihren Fußsohlen. Oh ja, auch das ist eklig!

Hygienefimmel und Deodorantdiktatur, im Westen haben wir nicht immer den Widerwillen vor Körpergerüchen erhöht. Hat nicht einst sogar Napoleon seiner Kaiserin Josephine geschrieben "Wasch dich nicht mehr, ich komme bald nach Hause!"

So geht man also in ein anderes Land, in eine andere Kultur. Und der Ekel kommt mit. Ist plötzlich da, drängt sich würgend auf! Da kann man noch so viel duschen!

Verglichen mit den Menschen früher, die in Städten voller Wanzen und Gestank auf Straßen voller Kot und toter Tiere wandelten und bei denen deshalb eine hohe Ekelschwelle nötig war, um das Leben zu ertragen, sind wir heute im Westen echte Mimosen. MIMOSEN!

Wir ekeln uns auch vor immer mehr Essen. Augen, Krallen oder Hirn, dem deutschen Durchschnittskonsumenten ein Gräuel, in Kambodschas Garküchen brutzeln die Inneren munter vor sich hin.

Kein Wunder also, wenn in den Dschungelshows des europäischen Fernsehens regelmäßig diejenigen Prüfungen am meisten Aufsehen erregen, bei denen einer der Kandidaten irgendetwas Ekliges essen muss: Känguruhoden oder Maden im Munde von C-Promis sind ein gefundenes Fressen. Diese Shows gibt es hier (noch) nicht.

Im Grunde handelt es sich beim Ekel um gesunkene Kultur, an die wir widerwillig erinnert werden. Die Psychoanalytikerin Julia Kristeva hat das Gefühl Ekel mit "das Verworfene" übersetzt. Damit können unterdrückte Minderheiten ebenso gemeint sein wie ganze Daseinsbereiche, Tiere, kulinarische Gewohnheiten, die lange Zeit aus dem Reich der Kultur ausgeschlossen waren.

Und Jean Paul Sartre hat in seinem Roman „Der Ekel“ gar die Ursache dieses Gefühls in der Sinnlosigkeit und Zufälligkeit unserer Existenz ausgemacht.

Existenzialismus hin oder her. Der Friseur will jetzt sein Geld. Auch wenn unsere Existenz frei und einsam ist, dann müssen wir uns in dieser Welt einfach selbst erfinden und mit den Erfindungen der anderen leben, denke ich mir so, und zahle 3000 Riel! Das sind umgerechnet 0,50 Eurocent. Sieht ganz gut aus, finde ich. Doch auf meinen Kopf juckt es jetzt ein bisschen.