Mit der eigenen Mutter zu reisen, ist in gewisser Weise eine Reise in die Vergangenheit. Wir kennen es alle! Es ist auch eine Reise an die eigenen Grenzen. Denn zu einer der alltäglichsten Ungerechtigkeiten der Menschheit gehört meiner Ansicht nach die ungleiche Ökonomie der Liebe zwischen Eltern und erwachsenen „Kindern“. Selten in der Welt geraten Geben und Nehmen, Zuwenden und Abwenden so auseinander! Rufen Eltern ihre „Kinder“ nicht immer an? Hängen nicht ganze Galerien von Kinderbildern in den Wohnzimmern der Eltern und bei uns hängt nichts? Und zieht nicht eine Tochter die Augenbraue eher hoch als ihre Mutter oder schnalzt ein Sohn mit der Zunge, wenn man mal wieder mit den Eltern spricht? Die Gefühle des Genervt seins sind ungleich verteilt und ihre Facetten bei jedem Familientreffen sichtbar.
So ging es auch mir, als meine fast 70-jährige Mutter in einer Pariser Post verschwand, um 5 Briefmarken zu kaufen. Ich wartete 10 Minuten vor der Tür und dann noch einmal 5, in meinem Kopf flötete in 1000 Tönen das Lied der Ungeduld. Die Post war vollkommen leer, und als ich durch die Glastür lugte, fragte ich mich, was meine Mutter mit dem Postangestellten zu bereden hätte, obwohl sie kein französisch spricht! Bekannt für ihre Kontaktfähigkeit malte ich mir aus, sie würde gar in Deutsch auf ihn einreden und er – zur Höflichkeit erzogen – würde ihr, wunderlich berührt, zuhören. Dass sie dann später nicht nur mit den Briefmarken erschien, sondern sogar mit Geld, dass sie noch selbstständig (!) vom posteigenen Bankautomaten gezogen hatte, setzte mich in Erstaunen und zeigte mir meine Grenzen auf. Das Leben geht ja doch weiter und wir erwachsenen Kinder sind gutberaten, die Augen offen zu halten, weil auch die Alten ändern sich. Auch wenn ich diese Einsicht am nächsten Tag wieder in Frage stellen musste, als meine Mutter völlig irritiert, die – ich muss es erwähnen – nicht ganz einfach zu passierenden Pariser Metroschranken zu überwinden suchte. Ich drehte mich instinktiv um und sah einen freundlichen alten Franzosen, der meiner Mutter beizubringen versuchte, das nicht die Eintrittskarte zum Louvre in den Automatenschlitz zu stecken sei, sondern ihr frisch erworbenes Ticket zur Untergrundbahn.
Solchermaßen beschwingt finden wir ein, zwei, drei das Grab von Oskar Wilde, an dem sich noch andere verspätete Friedhofsgäste festzuhalten versuchen. Ziemlich bald von wütenden Friedhofswächtern umzingelt. Reumütig versprechen wir, sofort zu gehen und ziehen doch wieder die nächste Chance in Betracht, noch einmal für Sekunden von der Hauptallee zum Ausgang zu verschwinden. Nun hat das kindliche Spiel mit den Wärtern schon vollkommen unsere Aufmerksamkeit gewonnen. Rechts und links liegen die Promis von einst. Die Wächter läuten und wir laufen im zick und im zack. Drüben im Krematorium wird ja auch noch jemand verbrannt. Die französische Trauergesellschaft schaut irritiert, als wir uns scheinheilig unter sie mischen wollen. Nur die Friedhofsangestellte erkennt an meinen kurzen Hosen so fort, dass wir auf der Flucht sind. „Pardon! Wir gehen ja schon“