Donnerstag, 28. Mai 2009

„Hier ist Gilbert Bécaud!“


Die meisten berühmten Pariser liegen auf dem Friedhof! Ich will damit nicht andeuten, dass Paris nicht lebendig, nicht erfrischend und aufregend ist. Ganz im Gegenteil! Paris, von Walter Benjamin in seinem endlos dicken Passagenwerk zur „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“ erkoren, würde noch immer mühelos einen der vorderen Plätze im Metropolenwettbewerb des 21. Jahrhunderts ergattern. Und Paris hat Gesicht! Ähnlich wie London, New York, Rom und vielleicht auch Bangkok, gibt es ein Bild, einen Charakterzug, der sofort den unverwechselbaren Zauber einer besonderen Weltstadt ausmacht, und möchten wir dann nicht einfach nur noch die Augenlider auf schläfrig stellen, und den Duft, die Kulissen der Stadt einatmen und nie wieder loslassen?
Ich bin mit meiner Mutter in Paris. Wir landen im Regen auf dem Airport Charles de Gaulle in Orly. Fröstelnd warten wir in einem Tunnel auf den Flughafenbus. Ein Betonungetüm lastet auf unseren Schultern und der Zugwind treibt den Zigarettengeruch von der Insel der letzten Raucher zu uns rüber. Ach, da gehen wir doch auch gleich mal hin…
Mit der eigenen Mutter zu reisen, ist in gewisser Weise eine Reise in die Vergangenheit. Wir kennen es alle! Es ist auch eine Reise an die eigenen Grenzen. Denn zu einer der alltäglichsten Ungerechtigkeiten der Menschheit gehört meiner Ansicht nach die ungleiche Ökonomie der Liebe zwischen Eltern und erwachsenen „Kindern“. Selten in der Welt geraten Geben und Nehmen, Zuwenden und Abwenden so auseinander! Rufen Eltern ihre „Kinder“ nicht immer an? Hängen nicht ganze Galerien von Kinderbildern in den Wohnzimmern der Eltern und bei uns hängt nichts? Und zieht nicht eine Tochter die Augenbraue eher hoch als ihre Mutter oder schnalzt ein Sohn mit der Zunge, wenn man mal wieder mit den Eltern spricht? Die Gefühle des Genervt seins sind ungleich verteilt und ihre Facetten bei jedem Familientreffen sichtbar.
So ging es auch mir, als meine fast 70-jährige Mutter in einer Pariser Post verschwand, um 5 Briefmarken zu kaufen. Ich wartete 10 Minuten vor der Tür und dann noch einmal 5, in meinem Kopf flötete in 1000 Tönen das Lied der Ungeduld. Die Post war vollkommen leer, und als ich durch die Glastür lugte, fragte ich mich, was meine Mutter mit dem Postangestellten zu bereden hätte, obwohl sie kein französisch spricht! Bekannt für ihre Kontaktfähigkeit malte ich mir aus, sie würde gar in Deutsch auf ihn einreden und er – zur Höflichkeit erzogen – würde ihr, wunderlich berührt, zuhören. Dass sie dann später nicht nur mit den Briefmarken erschien, sondern sogar mit Geld, dass sie noch selbstständig (!) vom posteigenen Bankautomaten gezogen hatte, setzte mich in Erstaunen und zeigte mir meine Grenzen auf. Das Leben geht ja doch weiter und wir erwachsenen Kinder sind gutberaten, die Augen offen zu halten, weil auch die Alten ändern sich. Auch wenn ich diese Einsicht am nächsten Tag wieder in Frage stellen musste, als meine Mutter völlig irritiert, die – ich muss es erwähnen – nicht ganz einfach zu passierenden Pariser Metroschranken zu überwinden suchte. Ich drehte mich instinktiv um und sah einen freundlichen alten Franzosen, der meiner Mutter beizubringen versuchte, das nicht die Eintrittskarte zum Louvre in den Automatenschlitz zu stecken sei, sondern ihr frisch erworbenes Ticket zur Untergrundbahn.
Auch diese Hürde war genommen und wir steigen an der Metrostation zum Friedhof Pére Lachaise aus. Aus irgendwelchen Gründen hatte der Mai an diesem Nachmittag beschlossen, sich seiner selbst zu erinnern und ein herrliches Sonnenlicht flimmerte über den Gräbern. Wir stehen vor der Friedhofskarte, auf einem Acker beladen von olympischer Prominenz. Eigentlich liegen alle hier! „Chopin“ zwitscherte meine Mutter. „Wir müssen zu Chopin!“ Und ich willigte ein, nicht ohne meinem Wunsch Gehör zu verschaffen, Marcel Proust und Oskar Wilde besuchen zu wollen. Wir stürmen los, durch das Labyrinth der Verblichenen, und wenn ich „stürmen“ sage, dann werden sich diejenigen unter euch, die bereits das Vergnügen hatten, mit uns zu spazieren, erinnern können, dass wir sehr gerne schnell gehen. Wir laufen eine Weile und nicht nur weil das Wort „verlaufen“ so gut dazu passt, gestehe ich meiner Mutter gegenüber ein, dass wir zwar den Abschnitt erreicht haben müssen, auf dem Chopin gebettet ist, doch dass nun nichts anderes als eine endlose Suche vor uns liegen würde. Tausende Gräber und kein Schild. Ich glaube, dass liebe ich an Paris. Es ist eine Stadt, die so reich an Vergangenheit ist, dass sie schon vergessen hat, auf ihre Berühmten hinzuweisen.

Das silberne Leuten der Friedhofswächter reißt uns aus der Ruhe. Der Friedhof macht bald zu und wir haben noch gar niemanden gefunden. „Los, lass uns noch fix zu Oskar Wilde gehen!“ schlage ich meiner Mutter vor. „Edith Piaf schaffen wir wahrscheinlich auch nicht mehr!“ Ich klinge wohl traurig, denn meine Mutter meint, auch wenn wir nichts finden sollten, das Licht und die Ruhe seien trotzdem schön. Vorbei an Steinen ziehen wir Richtung Norden. Dort wo Oskar Wilde liegen muss, und wo einen keinen Ausgang gibt. Das ahnen auch die Friedhofswächter und klingeln wütend in unseren Ohren. Wahrscheinlich sagen sie uns auf Französisch, dass wir in die falsche Richtung gehen, wie gut, dass wir nichts verstehen.

Wir traben jetzt nur noch über Nebenwege und für Sekunden habe ich meine Mutter verloren. Das fehlt jetzt auch noch. Einer von uns beiden bleibt jetzt hier… „HIER IST GILBERT BÉCAUD!“ Die Stimme meiner Mutter ist kaum zu hören aber sie klingt so fröhlich wie beim Pilze suchen im Wald. „WO BIST DU?“ rufe ich! „HIER!“ Ihre Antwort macht mich so orientierungslos wie ein Echo in den Bergen. Ich warte einen Augenblick und dann schießt sie hinter einem Busch hervor und bringt mich ganz aufgeregt zum Grab. „Am Tag als der Regen kam“ ist doch von ihm. Ja und natürlich „Nathalie“.
Solchermaßen beschwingt finden wir ein, zwei, drei das Grab von Oskar Wilde, an dem sich noch andere verspätete Friedhofsgäste festzuhalten versuchen. Ziemlich bald von wütenden Friedhofswächtern umzingelt. Reumütig versprechen wir, sofort zu gehen und ziehen doch wieder die nächste Chance in Betracht, noch einmal für Sekunden von der Hauptallee zum Ausgang zu verschwinden. Nun hat das kindliche Spiel mit den Wärtern schon vollkommen unsere Aufmerksamkeit gewonnen. Rechts und links liegen die Promis von einst. Die Wächter läuten und wir laufen im zick und im zack. Drüben im Krematorium wird ja auch noch jemand verbrannt. Die französische Trauergesellschaft schaut irritiert, als wir uns scheinheilig unter sie mischen wollen. Nur die Friedhofsangestellte erkennt an meinen kurzen Hosen so fort, dass wir auf der Flucht sind. „Pardon! Wir gehen ja schon“

Hingehen: Pére Lachaise und bitte die Öffnungszeiten beachten: Um 17.00 h ist Schluss!

2 Kommentare:

yadzia hat gesagt…
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
yadzia hat gesagt…

wunderbare geschichte! bastian und mama beim friedhofs-hopping... ich kann es mir lebhaft vorstellen!

ganz viele liebe grüße aus b, y.