Donnerstag, 3. März 2011

Das Gesetz der Frauen






Der Mann in der khakigrünen Uniform neben meinem Haus raucht eine Zigarette. Eine Waffe steckt schläfrig in seinem Ledergürtel. Er lächelt angestrengt, wie jedes Mal, wenn wir uns zufällig auf der Straße begegnen, und kickt eine zertretende Bierdose über den Bürgersteig. Es ist August, 2009, mitten in Phnom Penh.

Minuten später ein anderes Bild. L. sitzt am Tisch und weint. Sie hält sich ihre Hände vor das Gesicht und schluchzt, als wären alle Menschen dieser Welt gestorben. Sie kann sich gar nicht mehr einholen, steht auf und erklärt mir stockend, dass sie sexuell belästigt wurde. Es dauert eine Zeit, bis ich verstehe, was vorgefallen ist. Vor dem Haus im Garten, während des Blumen Gießens, stand er plötzlich vor ihr, nur durch das eiserne Gitter getrennt. Zwei Meter entfernt und holte seinen Penis raus und zeigte diesen L. Er flüsterte dreckige Worte, ganz leise, denn er wollte alles, nur nicht gehört werden von den anderen Kambodschanern im Nachbarhaus, die dort wie er als Sicherheitskräfte arbeiten. Flüstert leise, doch gezielt, tief hinein in die Seele einer kambodschanischen Frau.

L. geht zurück in die Küche, ihre Schultern zittern. Diese Frau ist getroffen, verletzt, unfähig, sich anders zu verhalten als Tausende andere Opfer sexueller Gewalt in diesem heißen Land.

Es gibt ein ungeschriebenes Gesetz in Kambodscha, das nur für Frauen gilt. Das „Chbab Srey“, übersetzt mit „Gesetz der Frauen“, ist ein uralter moralischer Code, in dem die Tugenden der Frauen in diesem südostasiatischen Land festgelegt sind. Es wurde nie im Parlament beschlossen, noch in der Öffentlichkeit diskutiert. Es ist einfach da und verlangt, eingehalten zu werden. Wie das Gesetz der Männer, das „Chbab Proh“, doch man könnte meinen, beide Codes wurden nur von Männern verfasst.

Obwohl es zu den Zeiten des goldenen Khmer-Empire berühmte und mächtige Frauengestalten gab, und Frauen als Priesterinnen, Königinnen, Tänzerinnen und Weise verehrt wurden, ging mit dem prächtigen Reich nicht nur eine gewisse Macht der Frauen unter, sondern Frauen verschwanden beinahe vollständig aus der Geschichtsschreibung für viele Jahrhunderte. Nichts scheint geblieben, von der alten Legende, dass Kambodschaner von einer himmlischen Apsara-Tänzerin abstammen und von einem weisen Mann.

Kambodscha heute ist weit davon entfernt, seine Geschichte feministisch aufzurollen, auch wenn ein Blick in die Tageszeitungen den Bedarf nach Gendergerechtigkeit eklatant erhellt. Vor wenigen Tagen wurde eine 38jährige Witwe vor den Augen ihrer Kinder in Battambang von einem Motortaxi Fahrer vergewaltigt, nur um nach dem grausamen Akt mit zwei Dollar „bezahlt“ zu werden. Und in Phnom Penh wurde vorgestern eine 17jährige Prostituierte Opfer eines Gang-Bang, einer Gruppenvergewaltigung mit 10 beteiligten betrunkenen Khmer. Die Polizei ermittelt in beiden Fällen, beide Opfer hatten den Mut, die Verbrechen anzuzeigen. Doch viele andere nicht! Opfer von Vergewaltigungen und anderen sexuellen Gewalttaten sehen sich oft weiteren Schwierigkeiten ausgesetzt beim Versuch, mit ihrer Situation fertig zu werden. Viele der Frauen, mit denen z.B. Amnesty International im Rahmen einer Studie sprach, sagten, dass sie zögerten, irgendjemandem zu erzählen, was ihnen passiert war. Sowohl jüngere als auch ältere Opfer bekennen, sie, nur sie hätten das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben. Sie suchen die Schuld bei sich selbst. Einige berichten, dass ihre Familien ihnen indirekt oder offen unterstellten, sie würden sich zu weit von zu Hause entfernen, zu lange wach bleiben oder sie würden sich von Fremden täuschen lassen. So verwundert es nicht, dass junge, unverheiratete Frauen von ihren Angehörigen nicht aus den Augen gelassen werden. Erst die verheiratete Frau, geschützt durch Ehe und Ehemann und Mutter von Kindern kann sich einer größeren Freiheit erfreuen.

Mehrere Opfer sagten, sie fühlten sich entmutigt, den Vorfall bei den Behörden anzuzeigen aus Angst, dass ihnen nicht geglaubt würde. Sie deuteten auch an, dass die Anzeige für eine Strafverfolgung aussichtslos sein könnte aus Ermangelung an Beweisen, und sich ihre Situation sogar noch verschlimmern könnte, indem sie der Gefahr von Gesichtsverlust, Rufschädigung und sogar Vergeltung ausgesetzt wären. Obwohl Opfer häufig von ihrer Umgebung und manchmal sogar von den eigenen Familien stigmatisiert werden, geht die Gesellschaft mit Tätern dagegen anders um. „Ich habe von niemandem in meinem Dorf gehört, der auf mich herunter geschaut hätte und auch nicht hier im Gefängnis. Es gibt hier so viele, die schlimme Dinge getan haben“, sagt ein Kambodschaner, der wegen Vergewaltigung von zwei Mädchen aus der unmittelbaren Nachbarschaft, im Alter von 9 und 10 Jahren, verurteilt wurde.

Weiße Frauen dagegen, die als Touristinnen in Kambodscha Urlaub machen oder solche, die hier arbeiten, beschreiben das Land bezogen auf sexuelle Gewalt als ausgesprochen sicher. Trauen sich Kambodschaner nicht an eine weiße Frau heran? Wieso richtet sich sexuelle Gewalt fast ausschließlich gegen Frauen aus dem eigenen Land?

Im „Chbab Srey“, dem Gesetz der Frauen ist ein moralischer Code eingeschrieben, der verlangt, dass Frauen, Ehefrauen Männern dienen sollen, sie respektieren, was immer auch geschieht. Es sagt, die Frau sei dem Manne Untertan, sie müsse als gute Frau alles unternehmen, damit er nicht sein Gesicht verliert. Ihm nicht zu widersprechen gehört in erster Linie natürlich auch dazu. Nie sei es ihr erlaubt, über häusliche Probleme mit anderen zu reden. Im Gegenzug darf sie Schutz erwarten, Einkommen und Sicherheit.

„Chbab Srey“ und „Chbab Proh“ sind Bestandteil der Grundschulbildung in Kambodscha, so gibt das Frauenministerium an, eine Sache der nationalen Identität. Es ist im Gesetz genauso vorgesehen, dass Männern nicht betrunken sein sollen, niemals um Geld spielen oder Ehebruch vollziehen. Doch unterschwellig untergräbt nicht nur eine männergeneigte Moral das ethische Gerüst der Geschlechter, und höhlt den Wert der Frauen aus, sondern auch die veränderten Lebenswirklichkeiten der kambodschanischen Gegenwart.

Schon immer hat der Buddhismus Männern die Tore zum Himmel geöffnet und den Frauen vorgeschrieben, sie müssten erst als Männer wiedergeboren werden, bevor sie Mönch werden können, um die Stufen ins Nirwana zu erklimmen. Kambodschanische Männer sind schon per buddhistisches Gesetz dem Erleuchteten ein Stück näher, wenn man auch durch schlichte Beobachtung zu ganz anderen Ansichten gelangen müsste. Spirituell stehen Männer über Frauen, Männer sind in der buddhistischen Religion einfach mehr wert.

Und in den Städten Kambodschas hat sich ein neuer Zeitgeist durchgesetzt, der im Englischen bereits unter dem Terminus „Pleasure indulgant masculinity“ in der NGO nahen Forschungsliteratur diskutiert wird. Ein, dass dem Vergnügen und dem Genuss nachgehendes Männlichkeitsbild beginnt, und das liegt an dem Wohlstand der neuen lebensstilprägenden Mittelschichten, das alte Bild des auf Sinnesfreude verzichtenden, asketischen Mannes abzulösen. Immer mehr kambodschanische Männer fahren dicke Autos, spielen um Geld, trinken mit Ihresgleichen am Abend Bier und fallen zu Hunderten in Biergärten ein, in denen die Geschlechterstereotype „blutjunge arme Frau“ und „älterer wohlhabender Mann“ bis zur Besinnungslosigkeit perpetuiert werden. Es ist fast schon ein Treppenwitz der Geschichte, dass das alte Ideal der jungfraulichen Braut der dröhnenden Modernisierung der Lebensstile stand hält. Als würden sich hier in diesem Land erst einmal nur die Männern „modernisieren“.

Gute kambodschanische Frauen dagegen sind, mit großer Detailtreue nachwievor angehalten, sich „vorbildlich“ zu verhalten, zum Beispiel in einem Seidenkleid so langsam zu laufen, dass man den Stoff nicht rascheln hört. Frauen demonstrieren ihren hohen Status, den sie in asiatischen Gesellschaften durchaus erlangen können, durch properes Verhalten. Die Gattin des Premierministers Madame Bun Rany, die wohl mächtigste Frau im Land, raschelt den ganzen Tag lautlos in Seide durch die für Wohltätigkeitzwecke inszenierten Events, lächelt wie eine Porzellanpuppe und verschenkt Lehrbücher und Schuluniformen an Waisenkinder.

Vielleicht würden in einer weniger traumatisierten Gesellschaft diese moralischen Codes funktionieren, in Kambodscha aber sind sie verantwortlich dafür, dass Männer, durch Krieg und Leid extrem verwundet, gefährdet sind, sich an denen rächen zu müssen, die kulturell unter ihnen stehen.

Weiße Touristinnen sind nicht ihre Opfer, denn sie haben so viel mehr als die meisten kambodschanischen Männer im Land. Freiheit, Status, Bildung und Geld, Unabhängigkeit. Sie kommen daher, wo so viele hier hinwollen. Sie sind in der kulturellen Hierarchie ganz oben.

Kambodschanische Frauen dagegen, die ihre Männer verloren haben, sei es, weil diese umgekommen sind, in den Zeiten des Krieges, oder weil diese sich eine andere Frau genommen haben, müssen sich und ihre Kinder ganz allein durchbringen, stehen früh auf, um an der Straße Essen zu verkaufen oder nähen bis spät in die Nacht. Sie kämpfen tagtäglich nicht nur gegen ihr Elend an, sondern auch gegen ihren „befleckten“ Status!

Mehr als ein Jahr ist vergangen. Das Gitter zum Nachbarhaus hatte ich mit einer Strohmatte zugehängt, weil L. mir sagte, sie könne sonst nicht mehr in meinem Haus arbeiten. Die Matte hing und der Wachmann rauchte gelangweilt seine Zigaretten auf der Straße. Vor kurzem aber riss ein Sturm an dem mürben Geflecht und die Matte gab nach. Und ich kam wieder nach Hause und hörte die laut erregte Stimme von L.

Sie steht im Garten am Gitter und tobt! Er zischt weg, nach innen ins Nachbarhaus, als er mich kommen sieht. L. aber rennt dieses Mal nicht zurück ins Haus, sondern auf die Straße. Sie schreit sich ihre Wut aus der Seele, bis andere Wachmänner kommen. Sie zetert, schimpft und bäumt sich auf. Sie verlangt, seinen Chef zu sprechen und dieser kommt. Sie erklärt ihm alles. Sie, deren Ehemann vor 14 Jahren tragisch starb, verlangt, dass der Wachmann, der ihr wieder seinen Penis gezeigt hat, gefeuert wird. Und dieser verliert zwei Tage später wirklich seinen Job. Er wird jetzt nie wieder im Nachbarhaus arbeiten. L. weint, doch dieses Mal hat sie gewonnen. Eine Frau, die mir zitternd erzählt, dass er sie noch angefleht haben muss, bloß nichts weiterzuerzählen, sie um Verzeihung bat. Doch es war bereits zu spät.

Später gibt mir L. einen Zettel. „Hier“ sagt sie, „diese Telefonnummer musst du anrufen, wenn ich nicht mehr kommen sollte. Das ist die Nummer von seinem Boss. Damit alle wissen, was los ist, wenn mir auf der Straße was passiert. Er hat schließlich eine Waffe und er hat durch mich seinen Job verloren.“

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