Sonntag, 21. März 2010

Im Land der großen Tabletten


In der kambodschanischen Arztpraxis in der Nähe von Phnom Penhs größtem Markt, Orussey, sitzen Patienten auf einer Stuhlreihe, wie fast überall auf der Welt. Sie sitzen mit dem Rücken zur Wand. Ihr Blick ist leer. Doch die lautlose Leere täuscht nicht über die Verletzlichkeit hinweg, die durch den Körper kriecht. Die durch den Magen schleicht, und in der erzwungenen Stille knurrt.

Ein junger Mann schiebt sich mit dem Verkehrslärm der Straße hinein. Er setzt sich auf den einzigen freien Stuhl, grußlos neben mich. Wenn Angst einen Geruch hat, dann strömt dieser von ihm aus, um sich gleich mit dem im Raum wabernden Desinfektionsmittelduft zu mischen und in diesem zu verschwinden.

Die Wartenden lesen keine „So-bleiben-Sie-gesund!“ – Journale, die sonst

wie fast überall in den Wartesälen der Welt, das bedrückende Ausharren verkürzen. Die kambodschanische Arztpraxis reduziert sich auf sich selbst: Warten, Drankommen, Behandelt werden, weggehen! Sie ist so pur, dass in den meisten Fällen auf eine räumliche Trennung zwischen Behandlungsraum und Wartezimmer verzichtet wird. Lediglich vor Entblößung wird durch einen Vorhang geschützt. Die schwangere Mutter mit ihrem jungen Kind, die jetzt dran ist, wird vor allen Augen behandelt. Sie krempelt ihren Ärmel hoch, der Arzt sucht ihre Adern und sticht mit der Kanüle hinein. Es ist nicht die Mutter, sondern das Kind, das jetzt schreit.

Es ist überhaupt zum Schreien in Kambodscha, wenn man krank wird.

Krankwerden ist in Kambodscha die Haupursache für Verarmung. Es gibt keine staatliche Krankenversicherung, und es ist auch keine in Sicht, wenn auch erste Projekte für eine kommunale Krankenversicherung gerade angeschoben werden. http://www.gtz.de/en/weltweit/asien-pazifik/27710.htm

Jede Behandlung beim Arzt wird sofort bezahlt. Bauern verkaufen ihr Land, um Krankenhauskosten zu bezahlen, andere borgen sich Geld und wissen nicht, ob sie die Schulden je zurück bezahlen können. Verursachen Kambodschaner einen Unfall, bleibt der Verletzte in der Regel auf der Straße liegen. Flüchten ist allemal billiger als Behandlungskosten zu bezahlen. Und der Verletzte ist umso mehr verletzt.

Gehen Kambodschaner zum Arzt, haben sie Schwierigkeiten, ihre Bedürfnisse klar zu äußern. Man sagt, sie hätten einfach überhaupt keine Vorstellungen davon, was und wie man ihnen helfen könnte. In ihrer Not erwarten sie in der Regel vom Arzt schnelle Lösungen, sprich Tabletten gegen die Krankheit, auch wenn oft gar keine Tablette hilft. Ein „ guter“ Arzt sieht sich so oft gezwungen, besonders große und möglichst viele Tabletten zu verschreiben, weil nur diese helfen können. Und der Irrglaube nimmt noch bizarrere Formen an. Kranke Kambodschaner glauben an den Schlauch! Besucher, die das erste Mal in Phnom Penh sind, fragen sich so auch nicht grundlos, ob hier gerade ein Krankenhaus evakuiert wurde, weil viele Kambodschaner mit angeschlossenen Infusionsgeräten auf dem Moped sitzen und leidend durch die Stadt kutschieren.

Tablettenglaube und Unwissenheit führen in schöner Regelmäßigkeit dazu, dass bei leichten Erkältungen schwere Antibiotika genommen werden, und das in Kambodscha mehr Babys an einer Paracetamolvergiftung sterben als an Infektionskrankheiten.

Ein NGO Direktor – so wurde mir unlängst berichtet – tanzte nach einem Festessen, das allen auf den Magen geschlagen war, die Reihen entlang, und verteilte jedem Anwesenden eine Fasigyn-Tablette gegen Darmparasiten, die, um wirksam zu sein, eigentlich in einem 10-Tage-Regime eingenommen werden müsste. Eigentlich!

Aber in den Apotheken ist ohnehin alles erhältlich. Die Rezeptpflicht gibt es nur auf dem Papier. In Europa nicht zugelassene Medikamente, süchtig machende Schmerzmittel oder Schlankmacher zum Beispiel, werden ohne mit der Wimper zucken über den Tresen gereicht. In Indien nachgebaute Viagra gibt für 0,35 US Cent das Stück. Und wenn die eine Tablette nicht hilft, probiert man eben die andere aus… In Kambodscha kauft man ja selten gleich eine ganze Packung Tabletten, sondern man kauft eben 3 oder 4 Pillen. Was dazu führt, dass man die Apotheke immer mit einer kleinen Plastiktüte verlässt, voll von verschiedenen Drogen, doch immer ohne Beipackzettel. Je wilder die Mischung, desto stärker der Glaube, genau die richtige Wahl getroffen zu haben…

Die fehlende gesundheitliche Aufklärung in Kambodscha hat Gründe:

Von den 600, 1975 in Kambodscha praktizierenden Ärzten, haben nur 50 den Khmer Rouge Terror überlebt. Pol Pot hat nicht nur Millionen Kambodschaner auf dem Gewissen, sondern auch das gesamte Gesundheitssystem. So ist die Lebenserwartung der Kambodschaner mit 59 Jahren eine der niedrigsten in Asien. Die hohe Muttersterblichkeit ist selbst der Regierung aufgefallen, die seit kurzem Voruntersuchungen von Schwangeren vorgeschrieben hat. Natürlich gibt es in vielen ländlichen Regionen gar keine Gesundheitszentren, so dass nicht nur die Voruntersuchungen auf der langen Strecke zum Hospital liegen bleiben.

Ein weiteres Übel: „Under table paiment“! Nicht selten wird von Patienten eine zusätzliche Schmiergebühr erwartet, um überhaupt einen Doktor zu Gesicht zu bekommen. Das medizinische Personal ist in Kambodscha chronisch unterbezahlt, mit Ausnahme der Ärzte, die in den Kliniken arbeiten, die von zahlungskräftigen Ausländern und reichen Kambodschanern aufgesucht werden.

Orte, die ganz anders aussehen, als die kambodschanische Arztpraxis in der Nähe vom Orussey Markt, in der ich 14, 15mal nun von Stuhl zu Stuhl gerutscht bin und mir – soweit mein Verständnis reicht – Krankheitsgeschichten der kambodschanischen Patienten angehört habe. Ich bin den Menschen näher gekommen, und näher dem Arzt. Jetzt bin ich dran. Ich reiche ihm meine Registriernummer, um mein HIV-Testergebnis abzuholen. Der Arzt zieht einen Zettel aus dem Kasten: „At mien HIV de!“ (Nicht haben HIV). Das macht dann 6.000 Riel (1 €). Ich zahle erleichtert. Der Arzt sieht mich erschöpft, doch freundlich an. Und das Geld legt man in dieser Praxis glücklicherweise auf den Tisch!


Der HIV Test wird in Kambodscha noch bis Ende 2011 durch internationale AIDS Fonds subventioniert. 1 Euro ist damit die reale an den Arzt zu entrichtende Gebühr.

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