Die alte Kambodschanerin, die uns noch am frühen Nachmittag die Türen zu ihrem herunter gekommenen Gasthaus „Mekong River“ geöffnet hatte, verwandelt sich in der Nacht in einen plagenden Geist. Einen hustenden, röchelnden und herumwandernden Poltergeist! Wir sind in Schlong.
Früher, so sagt mir mein Freund Thonevath, früher, da fuhren regelmäßig Dampfer, Frachtkähne und Postboote von Phnom Penh den mächtigen Mekong hinauf. Chlong lag auf ihrer Route, genauso wie die Provinzhauptstadt Kratsche, die noch heute Schaulustige anzieht wegen der Delphine, die in der diesigen Hitze über dem Mekong träge auftauchen, glucksen und schäumen.
Früher hielten die Schiffe auch in Chlong. Die kleine, elegante Stadt war verhältnismäßig reich und bekannt, nicht nur wegen ihrer malerisch sattgelben französischen Kolonialarchitektur, sondern auch wegen ihrer Papierfabriken. Hochwertige Papiere, Tapeten und Kuverts wurden hier aus Bambus gepresst. Doch nicht nur Papier ist vergänglich, es ist auch die Stadt, deren Schicksal es seit nunmehr fast 40 Jahren zu sein scheint, von der Landkarte zu verschwinden. Ein wertloser Fleck, von den Wirren des Krieges heimgesucht, entwurzelt und nicht wieder aufgewacht. Es ist nur der mächtige Mekong, der an Chlong ungebrochen, wie schon seit Urzeiten, weiterzieht.
Dass diese Reise in die Vergangenheit führt, hatte sich schon in Phnom Penh bei der Hotelsuche angedeutet. Das vor wenigen Jahren im alten Gouverneurspalast von Chlong neu eröffnete Boutique-Hotel „La Relais de Chhlong“ – Geheimtipp in der frankophonen Expatzene von Phnom Penh – war in keinem aktuellen Reisejournal mehr, und auch nicht im Internet zu finden. Als sich endlich, auf Umwegen eine Telefonnummer auftut, die zum Hotel zugehören scheint, meldet sich am Hörer ein kambodschanischer Rezeptionist, der mittlerweile am Meer in Kep arbeitet. Von Chlong mehr als 300 km entfernt. „Ja, das Hotel haben die Eigentümer aufgegeben. Nein, nein, ich weiß nicht, wer da heute wohnt. Wie viele Personen? Vier? Ach, kommen Sie doch lieber Kep!
Unser Taxi hält einen Tag später vor einer prächtigen Villa in Chlong. Leuchtend gelb stemmt sich das herrschaftliche Gebäude gegen den lehmigen Ufergrund. Durch den kurzgeschnittenen Rasen führt ein rot gefliester Weg. Die dunkelbraunen Fensterläden in den drei Etagen sind geschlossen. Im Swimmingpool blüht das Wasser grün, auf seinem Grund liegen Blätter und Algenschleier ziehen in der Tiefe.
„Na, sieht ganz so aus, als würden wir wirklich ein paar Monate zu spät kommen!“ Ich sehe meine deutsche Freundin an, die sich von ihrem Sohn Marten (13 Jahre) am Pool fotografieren lässt. „Ach was, lass uns doch mal nach hinten gehen!“ Auf meterhohen Büschen schweben tropische Blüten im Wind, die jeden botanischen Garten der Welt vor Neid erblassen lassen. Die tieferliegenden Wege zum Haus sind vom Regenwasser geflutet. Knietief versinken wir im Wasser, was besonders Martens Fantasie anregt. Doch das ist nur der Vorschmack auf einen düsteren Abend…
Aus dem hinteren Flügel der Villa taucht ein schläfriger kambodschanischer Wächter auf. Wir grüßen ihn freundlich und erkundigen uns nach den Eigentümern. Die hätten, so der korpulente Mann, dessen Haut in der Sonne glänzt, das Hotel vor 6 Monaten aufgegeben. Mich wundert es nicht, den ein Boutique-Hotel im Nirgendwo, zwischen einem längst vergangenem Gestern und unbestimmten Morgen, kann allein von Flüsterpropaganda nicht überleben. Der Wächter zeigt uns jetzt bereitwillig das Haus. Was für eine Abwechslung, mal wieder staunende Gäste durch die prächtigen Hallen zu führen. Die pompösen Zimmer lassen jeden Indochina-Traum wahrwerden. Eine zentimeterdicke Staubschicht wirbelt auf, als er die großen Flügeltüren zum Mekong hin öffnet, was für eine Aussicht, was für ein grandioser Untergang…
Die Aussicht auf den Mekong ist nicht minder beeindruckend, als wir zum frühen Nachmittag im Mekong River Guesthouse einchecken. Die beiden Unterkünfte dagegen spotten jedes Vergleiches. Schäbig sitzt das kambodschanische Holzhaus am Ufer des Mekong. Die alte Besitzerin ist froh über den unerwarteten und aus unserer Sicht unfreiwilligen Besuch. Sie freut sich wie eine Spinne, deren klebrige Fäden nur allzu lange mit dem Wind einsam spielten. Jetzt ist ein Braten da. 4 ahnungslose Touristen, die sich darauf verständigt haben, angesichts der Alternativlosigkeit zu Schlong eine Nacht in diesem Haus auszuhalten. Wir besichtigen die Zimmer, die sich wie in Kambodscha üblich, im ersten Stock des Pfahlhauses befinden, schon leicht angeekelt vom trüben Untergrund und deutlich geschockt vom Hofhund, der ein mächtiges, offenes Geschwür am Unterbauch mit sich herumträgt. Was für ein Leiden! Wieso bringt den niemand um?
Der Höflichkeit halber, sage ich der Wirtin, das Gasthaus sei schön, nur um sie im selben Augenblick zu bitten, die Zigarettenkippen und Bierflaschen unter dem Bett wegzuräumen und vielleicht die Spinnweben zu entfernen, die in ihrer Reichweite sind. Wenigstens erscheint die Bettwäsche unbenutzt. Wir nehmen den Jasmintee auf der Holzterrasse und entwickeln für Minuten eine Gefühl von Schönheit, weil wir direkt auf den braunen Mekong schauen, auf dem Bäume und Sträucher treiben.
Langsam senkt sich der Abend über den Fluss, ein leichter Regen setzt ein. Überhaupt scheinen das ganze Dorf und vor allem seine schlammigen Wege im Wasser zu ertrinken. Nicht nur der Regen, sondern auch der kranke Hund, der sich entsetzlich treu vor unsere Eingangstür gelegt hat, erstickt jeden Versuch, noch einmal einen Spaziergang zu unternehmen, in einem Gänseschauer.
Als es Nacht wird, und wir uns in einen unbestimmten Schlaf zu retten versuchen, wird die Wirtin ganz rege. „Der Herr haben weitere Wünsche?“ „Nein, vielen Dank!“ Eigentlich wollen wir nur unsere Ruhe haben. Und nach 5 Minuten erscheint sie wieder, dieses Mal nicht durch die Eingangstür, sondern durch eine Bodenlucke, die sich zur Überraschung aller knarrend in der Küche auftut. Im bleichen Licht der Energiesparlampe steht sie vor uns, wie ein Geist. „Nein, danke, was gibt es denn noch?“ Ich bitte meinen kambodschanischen Freund Vy der Frau endlich deutlich zu machen, dass wir nun die Etage gemietet hätten und sie nicht länger durch die Zimmer spuken soll. Vy, so zumindest sagt er uns, hätte es der alten Frau ganz klar gesagt, doch es ist Marten, der 15 Minuten später aus dem großen dunklen Holzsalon angerannt kommt und schreit: „Die alte Hexe kommt schon wieder!“ Wir stürzen aufgebracht im Salon, unser Aufgebrachtsein müsste auch dem Dümmsten auffallen. Die alte Frau, dieses Mal in einem fleckigen Nachtkleid, kramt Kissen aus einer Truhe hervor. Brabbelnd schlürft sie wieder vor die Tür, um sich direkt vor dem Eingang ihr Nachtlager zu bauen. „Wie, will die Hexe jetzt direkt vor unserer Tür schlafen?“ Der kranke Hund schlägt an, nebenan im Nachbarhaus, werden gerade Hühner geschlachtet. Marten ist völlig außer sich. Selbst mir ist es jetzt „zu viel Kambodscha!“
Ich gehe ins Bad, um zu duschen, doch schrecke zurück, weil im Wasserbassin kleine Fische schwimmen. Die Moskitonetze vor den beiden kleinen Fenstern sind zerfetzt. Diese Morbidität ist kaum auszuhalten. Als ich durch die regenfeuchte Küche wate, schiebe ich einen schweren Stuhl auf die Bodenlucke. Diese Luke kriegt sie niemals hoch. Drinnen verrammeln meine Freunde die zwei weiteren Türen und rücken schwere Tische von innen davor. Die Wirtin steht düster vor dem Fenster und schaut brabbelnd hinein. Dann hustet sie laut und spuckt ihre Aule in die Nacht.
Ich lege mich ins Bett, und schmunzele in mich hinein. Meine gezählte Tage in Kambodscha, meine Sehnsucht, noch einmal auf Wegen zu reisen, die mir nur vom Flüstern bekannt sind. Dazu gehörte auch diese Passage nach Chlong in der Monsunregenzeit. Und dann das Grenzwertige dieses Ortes, das Verkommene und Kranke, wie wohl meine deutschen Freunde in dieser Nacht schlafen werden…
Doch plötzlich fällt mir ein, dass wir noch gar kein Taxi für morgen organisiert haben. Ich fahre hoch und renne ins Nachbarzimmer, um Vy zu fragen. Dieser sagt, die Wirtin wüsste schon Bescheid und wolle sich gleich morgen früh kümmern. Irgendwann falle ich in einen leichten Schlaf, in dem sich das Ächzen des Hauses im Wind und der trommelnde Regen mit den ekelerregenden Bildern des Tages verbinden. Das kranke Tier, die zahnlose Alte, der Müll auf den Straßen und der braune Sumpf. Ich stelle den Deckenventilator ab, nicht das mir noch in der Nacht eines der vielen Spinnweben von oben auf das Gesicht wedelt. So viel Gruft war noch nie.
Gegen drei Uhr morgen kracht es unter dem Haus, als wäre ein Lastkraftwagen ins Gebälk gefahren. Alle fahren hoch. Ein Poltergeist? Hunde schlagen an, Stimmen. Ein Moped knattert davon. Ich ziehe mir die Decke über den Kopf. Meine Tür ist von innen verriegelt. Nein, ich will jetzt nicht aufstehen, ich will jetzt nicht schon wieder diesem Monstrum gegenüberstehen. Türen rütteln, dann Ruhe…
Als die Morgendämmerung über den Mekong kriecht, werde ich von ihrer schnarrenden Stimmer geweckt. Sie steht, weniger als einen Meter von meinem Bett entfernt, direkt vor meinem Fenster, klammert sich an seine Eisengitter und ächzt in meinen Raum hinein: „Der Herr, ihr Taxi ist schon weggefahren…“ Es ist 5.30 Uhr.
Das glaub ich nicht! Ich reiße meine Kamera hoch und knipse ein Foto von ihr. In manchen Kulturen, so erinnere ich aus meinem ethnologischen Studium, kann man mit Fotos die Seelen von Menschen töten…
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